Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
wir es jedes Mal, uns gegenseitig festzuhalten.
Das ekelhafte Gurgeln und Rauschen der Luft schien unten aus den Löchern zu kommen. Wie schwarzes Gesträuch in der Nacht streckte es seine Fühler aus und griff nach uns. Wenn man genau hinhörte, klang es wie Röcheln. Als ob eine Horde Enthaupteter aus offenen Kehlen Klage erhöbe.
»Das Wasser steigt«, sagte das Mädchen. »Die Egel sind nur die Vorboten. Wenn sie verschwinden, kommt das Wasser. Es quillt dann aus allen Löchern, das alles hier wird ein einziges Moor. Die Egel wissen das, deshalb kriechen sie heraus. Irgendwie müssen wir es bis zum Altar schaffen, bevor das Wasser kommt.«
»Du hast das gewusst?«, sagte ich. »Warum hast du mir nicht vorher Bescheid gesagt?«
»Genau habe ich es ja nicht gewusst. Das Wasser kommt nicht jeden Tag, nur zwei-, dreimal im Monat vielleicht. Woher sollte ich wissen, dass es ausgerechnet heute wieder so weit ist?«
»Ein Unglück kommt selten allein.« Ich sprach aus, was mir schon seit dem Morgen im Kopf herumspukte.
Vorsichtig tasteten wir uns weiter vor, von einem Loch zum nächsten. Es nahm und nahm kein Ende. Die Löcher erstreckten sich womöglich bis ans Ende der Welt. An unseren Sohlen klebten so viele Egel, dass man den Boden unter den Füßen nicht mehr spürte. Die Konzentration auf jeden einzelnen Schritt machte stumpf, es wurde zunehmend schwieriger, das Gleichgewicht zu halten. Körperlich wächst man in extremen Situationen nicht selten über sich hinaus, die Konzentrationsfähigkeit jedoch ist viel begrenzter, als man denkt. In länger andauernden kritischen Situationen, egal welchen, nimmt sie unweigerlich ab. Die Einschätzung der Krise und die Todesphantasien verlieren an Schärfe, im Kopf herrscht zunehmend Leere.
»Ein kleines Stück noch«, sagte das Mädchen zu mir. »Ein kleines Stück noch, und wir sind in Sicherheit.«
Mir war jedes Wort zu viel, ich nickte nur. Bis mir auffiel, dass Nicken im Dunkeln gar keinen Sinn macht.
»Hast du gehört? Ist alles in Ordnung?«
»Alles in Ordnung. Mir kommt’s nur hoch«, gab ich zur Antwort.
Ich hatte schon die ganze Zeit das Gefühl, erbrechen zu müssen. Das Gewimmel der Egel, ihr Gestank und ihr Schleim, das widerwärtige Röcheln, die Dunkelheit, meine Erschöpfung und der Wunsch nach Schlaf, all das wirkte zusammen und legte sich wie ein Eisenring um meinen Magen. Schon lag mir der üble Geschmack von Magensäften auf der Zunge. Mit meiner Konzentrationsfähigkeit ging es zu Ende. Ich kam mir vor wie ein fünf Jahre nicht mehr gestimmtes Klavier, das nur über Tasten für drei Oktaven verfügt. Wie viele Stunden wanderte ich denn schon in dieser Dunkelheit umher? Wie spät mochte es jetzt draußen in der Welt sein? War es schon hell? Wurden die Zeitungen schon ausgetragen?
Ich konnte nicht einmal auf die Uhr sehen. Ich hatte genug damit zu tun, den Boden abzuleuchten und einen Fuß vor den anderen zu setzen. Gern hätte ich die Morgendämmerung gesehen, wie der Himmel langsam aufhellt. Und warme Milch getrunken, das morgendliche Grün gerochen und in der Zeitung geblättert. Von Dunkelheit und von Egeln, von Löchern und von Schwärzlingen hatte ich die Schnauze voll. Jedes Organ, jeder Muskel, jede Faser meines Körpers sehnte sich nach Licht. Schon der kleinste Strahl hätte mir genügt. Anständiges Licht wollte ich sehen, kein Taschenlampenlicht, einen kleinen, winzigen, elenden Strahl nur.
Bei dem Gedanken an Licht zog sich mir der Magen zusammen, als würde er in einer Faust zerquetscht, meinen Mund füllte übler Geruch. Ein Geruch wie von verdorbener Salamipizza.
»Wenn wir hier durch sind, kannst du dich übergeben, soviel du willst. Halt noch ein bisschen durch!«, sagte das Mädchen. Dann drückte sie feste meinen Ellbogen.
»Ich übergeb mich nicht«, stöhnte ich.
»Glaub mir«, sagte sie. »Das alles geht vorüber. Ein Unglück kommt selten allein, mag sein, aber irgendwann hat alles sein Ende. Es kann nicht ewig dauern.«
»Ich glaub’s«, antwortete ich.
Doch die Löcher schienen ewig anzuhalten. Als ob wir im Kreise liefen. Ich dachte wieder an meine druckfrische Zeitung. Sie ist so frisch, dass die Druckerschwärze mir die Finger verfärbt. Sie enthält einen dicken Stapel Reklameeinlagen. In der Zeitung steht alles. Alles, was das Leben auf der Erde betrifft. Um wie viel Uhr der Premierminister aufgestanden ist, die Lage am Aktienmarkt, der Freitod einer ganzen Familie, Rezepte für das Abendessen, die neusten
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