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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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geträumten und die Laune immer weiter verschlechternden Alptraum. Etwas jagte mir nach, ich kam nicht recht voran, das Etwas rückte immer näher und griff nach mir, kalt, schlüpfrig. Im Traum schon eine hoffnungslose Situation, in der nackten Wirklichkeit umso schlimmer. Ich gab das Treppensteigen auf und zog mich mit beiden Händen direkt am Felsen hoch.
    Plötzlich kam mir die Idee, mich einfach mit dem Wasser nach oben treiben zu lassen. Das wäre erstens bequemer, und zweitens bestünde keine Gefahr mehr, abzustürzen. Ich wälzte die Idee eine Weile im Kopf; dafür, dass sie von mir stammte, schien sie gar nicht so schlecht zu sein.
    Doch als ich sie zum Besten gab, sagte das Mädchen kategorisch, das ginge nicht. »Unter der Wasseroberfläche herrscht eine starke Strömung. Wenn du in die Strudel kommst, tauchst du nie wieder auf. Doch selbst wenn: Wo willst du denn in der Dunkelheit hinschwimmen?«
    Es blieb, mit einem Wort, nur der eine Weg, Stück für Stück weiterzuklettern, so schwer es auch fiel. Wie das Brummen eines langsamer werdenden Motors nahm das Rauschen zusehends ab, wandelte sich zu dumpfem Stöhnen. Der Pegel stieg unaufhörlich. Wenn wir nur anständiges Licht hätten, dachte ich. Ein kleines bisschen nur. Bei anständigem Licht könnten wir bequem den Felsen erklettern und außerdem den Wasserstand sehen. Dann wäre es wenigstens mit dieser alptraumhaften Ungewissheit, wann das Wasser uns einholen würde, vorbei. Ich hasste die Dunkelheit von ganzem Herzen. Was mich jagte, war nicht das Wasser. Es war die zwischen dem Wasser und meinen Füßen liegende Dunkelheit. Diese Dunkelheit flößte mir kaltes Grausen ein.
    In meinem Kopf lief immer noch der Film von dem Damm. Aus den gigantischen Schleusenbögen ergoss sich weiter Wasser in das darunter liegende mörserförmige Becken. Beharrlich nahm die Kamera das Schauspiel aus allen möglichen Winkeln auf. Von oben, von der Seite, aus der Frontale verfolgte sie die Springflut. Auf der Betonmauer des Damms zeichnete sich der Schatten des Wassers ab. Er tanzte auf der glatten, weißen Wand, als wäre er selber Wasser. Ich starrte hin, und plötzlich wurde der Schatten zu meinem eigenen. Auf der Betonkrümmung des Damms tanzte mein eigener Schatten! Ich saß im Kinostuhl und sah meinem Schatten zu. Dass es mein Schatten war, wusste ich sofort, aber wie ich als Kinobesucher mich dazu verhalten sollte, wusste ich nicht. Ich war ein neun- oder zehnjähriger machtloser Knirps. Vielleicht hätte ich zur Leinwand laufen und mir meinen Schatten zurückholen sollen. Oder in den Projektionsraum und die Filmrolle klauen. Ich wusste aber nicht, ob das rechtens wäre. Also blieb ich nur so sitzen und sah meinem Schatten zu.
    Er tanzte ewig weiter. Er flackerte stumm wie eine in der Hitze flimmernde ferne Landschaft. Er konnte nicht sprechen, offenbar auch nichts mit den Händen signalisieren. Trotzdem war ich sicher, dass er mir etwas mitteilen wollte. Er wusste genau, dass ich im Kino saß und ihn sah. Doch er war ebenso machtlos wie ich. Er war nur ein Schatten.
    Von den anderen Kinobesuchern schien niemand zu bemerken, dass der Wasserschatten an der Wand des Dammes in Wirklichkeit mein Schatten war. Nicht einmal mein großer Bruder, der im Sitz neben mir saß. Wenn er es gemerkt hätte, hätte er es mir garantiert ins Ohr geflüstert. Der konnte einen im Kino mit seinem Geflüster richtig nerven.
    Ich selbst sagte auch niemandem, dass der Schatten an der Wand mein Schatten war. Wahrscheinlich hätte mir sowieso keiner geglaubt. Und außerdem sah es so aus, als ob mein Schatten das, was er mitzuteilen hatte, nur mir allein mitteilen wollte. Aus einer anderen Welt und einer anderen Zeit heraus bediente er sich der Kinoleinwand, um mir etwas zu sagen.
    Einsam war mein Schatten auf der gekrümmten Wand, von allen verlassen. Wie er dort hingekommen war und was er weiter vorhatte, wusste ich nicht. Wahrscheinlich würde ihn die irgendwann einsetzende Dunkelheit verschlucken. Oder er würde von den Fluten mitgerissen und bis zum Meer geschwemmt, um dort vielleicht wieder seine Rolle als mein Schatten zu erfüllen. Bei dem Gedanken kam ich mir furchtbar verlassen vor.
    Dann waren die Dammnachrichten vorbei, die Leinwand zeigte die Krönungsfeierlichkeiten irgendeines Königs. Quer über einen großen, gepflasterten Platz fuhr eine schöne, von federbuschgeschmückten Pferden gezogene Karosse. Ich suchte wieder nach meinem Schatten, aber zu sehen waren nur

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