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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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wie mit einer schönen Frau.
    An dieser Stelle fiel mir ein, dass ich ja gar keinen Anzug und keinen Mantel mehr hatte. Das verrückte Duo hatte doch meine gesamte Garderobe zerschlitzt. Großartig, dachte ich. Was sollte ich für den Barbesuch denn anziehen? Zuerst musste ich mich einkleiden. Ich entschied mich für einen dunkelblauen Tweed-Anzug. Klassisch. Elegantes Blau, drei Knöpfe, unwattierte Schultern, nicht auf Taille gearbeitet. Ein Anzug, wie ihn George Peppard in den Sechzigern getragen hat. Bleichblaues Hemd, wunderbar abgestimmt. Dickes Oxford-Cotton, möglichst orthodoxer Kragen. Die Krawatte zweifarbig gestreift. Rot und Grün. Das Rot gesetzt, das Grün wie das Meer bei Sturm, ein unbestimmtes, fast blaues Grün. Das alles in einer eleganten Herrenboutique besorgen, in die Bar und einen doppelten Scotch on the rocks bestellen. Die Egel, die Schwärzlinge, der Krallenfisch – die ganze Untererde konnte mir gestohlen bleiben. Ich saß über der Erde, trug meinen dunkelblauen Tweed-Anzug und schmeckte Schottland.
    Plötzlich fiel mir auf, dass das Rauschen weg war. Offenbar quoll aus den Löchern nichts mehr nach. Oder das Wasser stand so hoch, dass das Gurgeln nicht mehr zu hören war. Egal. Wenn das Wasser steigen wollte, sollte es nur steigen. Ich hatte beschlossen zu überleben. Ich würde mir meine Erinnerungen wiederholen. Mit mir kann keiner mehr den Hanswurst machen. Ich hätte es der ganzen Welt ins Gesicht schreien mögen: Mit mir kann keiner mehr den Hanswurst machen!
    Ich schrie jedoch nicht. Was hätte es auch genutzt, in der unterirdischen Dunkelheit, an eine Felswand gepresst. Stattdessen verrenkte ich mir den Hals, um so weit wie möglich in die Höhe zu schauen. Das Mädchen war schon viel höher, als ich gedacht hatte. Wie hoch genau, war schwer zu sagen, aber bestimmt drei, vier Kaufhausstockwerke. Abteilung Damenoberbekleidung, vielleicht auch schon Stoffe und Gardinen. Wie hoch mochte dieser verdammte Felsen wohl sein? Wir waren schon ein schönes Stück geklettert, wenn das oben so weiterging, hatte das Ding gewaltige Ausmaße. Aus einer Laune heraus bin ich einmal ein sechsundzwanzigstöckiges Hochhaus zu Fuß hinauf, und so hoch, schien mir, war der Fels hier mit Sicherheit auch.
    Wie auch immer: Es war jedenfalls ein Glück, dass man in der Dunkelheit unten nichts sah. Ohne Ausrüstung und nur in Tennisschuhen in einer so hohen Wand, da würde man sich, Bergsteigererfahrung hin oder her, bei einem Blick nach unten in die Hose machen. Das wäre das Gleiche, wie an einem Wolkenkratzer ohne Sicherheitsnetz und Gondel Fenster zu putzen. Solange man nur klettert, ist alles gut, aber ein kleines Zögern oder ein falscher Gedanke, und die Höhe zerrt an den Nerven.
    Ich verrenkte mir noch einmal den Hals, um nach oben zu schauen. Sie schien noch zu klettern, ihr Licht baumelte, war aber schon viel höher als zuvor. Anscheinend konnte sie wirklich gut seilklettern. Mein lieber Mann, war das hoch. Geradezu blödsinnig hoch. Warum musste der Alte ausgerechnet so einen bombastischen Fluchtweg nehmen? Hätte er einfach an einem ruhigen, stillen Plätzchen auf uns gewartet, wäre uns das alles erspart geblieben.
    Als ich mir das durch den Kopf gehen ließ, meinte ich, von oben eine Stimme zu hören. Ich sah hoch; dort blinkte ein kleines gelbes Licht, langsam, wie am Seitenruder eines Flugzeugs. Sie hatte es offenbar geschafft. Ich packte mit einer Hand das Seil, zog mit der anderen die Taschenlampe aus der Hosentasche und gab das gleiche Signal zurück. Dann richtete ich den Strahl nach unten, um zu sehen, wie hoch das Wasser stand, doch das Taschenlampenlicht war einfach zu schwach. In der dichten Dunkelheit konnte man nur etwas sehen, wenn man mit der Lampe ganz nah heranging. Meine Armbanduhr zeigte 4:12 Uhr. Es war immer noch nicht Tag, die Zeitung noch nicht ausgetragen. Es fuhr noch keine Bahn, die Leute schliefen ihren festen, ahnungslosen Schlaf.
    Ich legte beide Hände ans Seil, atmete einmal tief durch und begann den Aufstieg.

24  DAS ENDE DER WELT
DAS SCHATTENFELD
    Drei Tage später ist das herrliche Wetter mit einem Schlag vorbei. Ich wache morgens auf, und der Himmel ist mit dicken, dunklen Wolken verhangen. Die Sonnenstrahlen haben längst ihren warmen Glanz eingebüßt, wenn sie die Wolkendecke durchdrungen haben und endlich unten angekommen sind. In dem aschgrauen, kalten Licht sehen die kahlen Äste der Bäume wie Risse im Himmel aus. Das Rauschen des Flusses klingt

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