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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Gebäudeschatten und die der Karosse und der Pferde.
    An mehr konnte ich mich nicht erinnern. Ob mir das alles damals wirklich passiert war, vermochte ich nicht zu entscheiden. Denn als wirkliche Vergangenheit hatte ich mich an das, was mir eben durch den Kopf geschossen war, zuvor noch nie erinnert. Vielleicht war es nur ein imaginäres Bild, heraufbeschworen vom Rauschen des Wassers in dieser grotesken Dunkelheit. Von solchen selbst produzierten Bildern habe ich einmal in einem Psychologiebuch gelesen. Der Mensch, meinte der Autor, neige in Extremsituationen dazu, zum Schutz vor der rauen Wirklichkeit in Tagträume zu fliehen. Doch dafür war das Bild, das mir vor Augen gestanden hatte, zu genau, zu lebendig gewesen, es hatte eine Kraft besessen, als wäre es mit meiner Zukunft verwoben. Ich konnte mich genau an die Gerüche und Geräusche erinnern, die mich umgeben hatten. Und ich konnte die Verwirrung und das Durcheinander und die ungewisse Angst nachempfinden, die ich als Neun- oder Zehnjähriger empfunden hatte. Man konnte sagen, was man wollte: Das war mir zugestoßen. Es war von irgendeiner Macht in den hintersten Winkel meines Unterbewusstseins verbannt und nun, in dieser Extremsituation, freigesetzt worden.
    Von irgendeiner Macht?
    Das konnte nur mit der Gehirnoperation zusammenhängen, die sie wegen des Shufflings an mir vorgenommen hatten. Sie hatten meine Erinnerungen in die Mauern meines Bewusstseins eingeschlossen. Sie hatten mir meine Erinnerungen gestohlen!
    Ich wurde wütend. Dazu hatte niemand das Recht! Das waren meine ganz privaten, ureigenen Erinnerungen, sie gehörten mir. Erinnerungen zu stehlen hieß nichts weniger, als Lebensjahre zu stehlen. Ich wurde immer wütender, meine Angst war mir scheißegal. Ich schwor mir, um jeden Preis zu überleben. Ich musste überleben, dieser verrückten Welt der Dunkelheit entfliehen und jede, aber auch jede Erinnerung, die man mir gestohlen hatte, zurückerobern. Das Ende der Welt und pipapo, scheißegal. Ich hatte mich selbst wiederherzustellen.
    »Ein Seil!«, schrie die Kleine plötzlich.
    »Ein Seil?«
    »Ja, komm schnell! Hier hängt ein Seil runter!«
    Ich kletterte hastig die drei oder vier Stufen zu ihr hoch und tastete mit der Hand die Felswand ab. Da hing tatsächlich ein Seil. Ein gutes Bergsteigerseil, wenn auch nicht besonders dick; das Ende baumelte in Brusthöhe vor mir. Ich packte es mit einer Hand und prüfte vorsichtig, ob es hielt. Es schien irgendwo ordentlich festgemacht zu sein.
    »Das muss Großvater gewesen sein!«, rief das Mädchen. »Er hat es für uns heruntergelassen!«
    »Lass uns lieber noch etwas höher klettern«, sagte ich.
    Ungeduldig mit den Füßen Halt suchend, arbeiteten wir uns eine Spiraldrehung höher. Das Seil hing noch an seiner Stelle. Alle dreißig Zentimeter war es verknotet. Wenn es wirklich bis zur Spitze des »Turms« reichte, konnten wir eine Menge Zeit sparen.
    »Das war Großvater, ganz bestimmt. Er denkt an alles.«
    »In der Tat«, sagte ich. »Kommst du da hoch?«
    »Was denkst du denn?«, sagte sie. »Im Seilklettern war ich schon als Kind gut. Hab ich dir das nicht erzählt?«
    »Dann kletter vor«, sagte ich. »Gib mir ein Blinksignal, wenn du oben bist. Ich komm dann nach.«
    »Bis dahin ist das Wasser hier. Können wir nicht zusammen hochklettern?«
    »Ein Seil, ein Mann: alte Bergsteigerregel. Erstens, weil das Seil reißen könnte, und zweitens, weil Klettern zu zweit schwieriger ist und mehr Zeit kostet. Wenn das Wasser wirklich bis hierhin steigt, kann ich mich immer noch am Seil festhalten und irgendwie hochklettern.«
    »Du bist mutiger, als du aussiehst«, sagte sie.
    Ich wartete im Dunkeln still auf meinen zweiten Kuss, doch sie stieg geschwind das Seil hoch, ohne sich um mich zu scheren. Ich klammerte mich an den Fels und sah zu, wie ihr baumelndes Lampenlicht Höhe gewann. Es wankte wie eine Seele, die sturzbetrunken gen Himmel fährt. Der Anblick machte mir Lust auf einen Schluck Whiskey, doch der war in meinem Rucksack, und in meiner unsicheren Stellung den Rucksack abzusetzen und die Whiskeyflasche herauszukramen war ein Ding der Unmöglichkeit. Also begnügte ich mich mit der bloßen Vorstellung, einen zu mir zu nehmen: Eine ruhige, saubere Bar, ein Schälchen mit Nüssen, im Hintergrund spielt leise Vendome von MJQ, auf dem Tresen ein doppelter Whiskey on the rocks. Eine Weile sehe ich das Glas nur an. Whiskey will zuerst betrachtet werden. Erst satt sehen, dann trinken. Das ist

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