Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
nein, der doch nicht. Der ist anders als das Waldpack, aber auch anders als wir hier in der Stadt. Nichts Halbes und nichts Ganzes. Er kann weder ganz in den Wald gehen noch in die Stadt zurückkommen. Harmlos, aber keinen Mumm in den Knochen.«
»Was sind denn das für Leute, die im Wald wohnen?«
Der Wächter legt den Kopf schief und sieht mich eine Weile schweigend an. »Wie ich am Anfang gesagt habe: Du kannst fragen, was du willst, aber ob ich antworte, ist meine Sache.«
Ich nicke.
»Gut. Auf diese Frage will ich nicht antworten«, sagt der Wächter. »Apropos, du wolltest doch immer deinen Schatten besuchen. Wie wär’s damit? Es ist Winter, und seine Kräfte haben ziemlich nachgelassen. Du kannst ihn jetzt sehen.«
»Geht es ihm schlecht?«
»Nein, nein. Prächtig geht’s ihm. Ich lasse ihn mehrere Stunden täglich raus, damit er sich bewegt. Über seinen Appetit kann man auch nicht klagen. Sicher, im Winter, wenn die Tage kürzer sind und es kalt wird, verschlechtert sich der Zustand eines Schattens schon, das ist nun mal so. Niemand kann dafür. Das Natürlichste von der Welt ist das, die Natur hat es so eingerichtet. Weder deine noch meine Schuld. Aber frag ihn doch gleich selbst, ich bring dich zu ihm.«
Der Wächter nimmt den Schlüsselbund von der Wand, steckt ihn sich in die Jackentasche und zieht sich gähnend die massiven Schnürstiefel aus Leder an. Furchtbar schwer sehen sie aus, die Sohlen sind mit Spikes beschlagen, für Eis und Schnee.
Das »Schattenfeld« liegt genau zwischen beiden Welten, zwischen der Stadt und der Welt draußen. Ich kann nicht nach draußen, der Schatten nicht in die Stadt. Deshalb ist dies der einzig mögliche Ort, wo wir uns treffen können: ein Mensch ohne Schatten und ein Schatten ohne Mensch. Das Schattenfeld liegt direkt am Hinterausgang der Wachhütte. »Feld« ist übertrieben – der Platz heißt zwar so, ist aber kaum größer als ein normaler Garten und durch einen massiven Eisenzaun hermetisch abgeriegelt.
Der Wächter holt den Schlüsselbund aus der Tasche, schließt das Eisentor auf, lässt mich hineingehen und kommt dann selbst nach. Das Schattenfeld ist streng quadratisch, auf der gegenüberliegenden Seite wird es von der Mauer abgeschlossen. In einer Ecke steht eine alte Ulme, darunter eine karge Holzbank. Die Ulme ist so fahl, dass man nicht sagen kann, ob sie noch lebt oder schon abgestorben ist.
In der Mauerecke steht eine notdürftig aus alten Ziegeln und Schrott zusammengeschusterte Hütte mit einer einfachen Pendeltür und scheibenlosen Fenstern. Einen Kamin kann ich nicht entdecken, also gibt es wohl auch keine Heizung.
»In der Hütte da drüben übernachtet dein Schatten«, sagt der Wächter. »Sie ist gar nicht so unkomfortabel, wie sie aussieht. Fließendes Wasser, Klo – alles da. Sie hat sogar einen Keller, wo der Wind nicht durchpfeifen kann. Nun ja, kein Drei-Sterne-Hotel, aber die Hütte schützt vor Regen und Wind. Willst du mal reingehen?«
»Nein, ich warte lieber draußen auf ihn«, sage ich. Die verpestete Luft in der Wachhütte hat mich ganz benommen gemacht. Ich habe Kopfschmerzen. Hier draußen ist es zwar kalt, aber ich bin wenigstens an der frischen Luft.
»Wie du willst. Dann hol ich ihn«, sagt der Wächter und verschwindet in der Hütte.
Ich schlage den Mantelkragen hoch, setze mich auf die Bank unter der Ulme und scharre mit den Absätzen auf dem Boden herum. Die Erde ist hart, hier und da ist noch ein Fleckchen vereisten Schnees zu sehen. Nur im Schatten der Mauer, wo die Sonne nicht hinkommt, hat es noch nicht getaut.
Nach einer Weile kommt der Wächter mit dem Schatten aus der Hütte. Der Wächter stampft mit seinen Spikes über den Platz, als wolle er die gefrorene Erde unter seinen Füßen zermalmen, mein Schatten schleicht ihm langsam hinterher. Er sieht keineswegs so kerngesund aus, wie der Wächter behauptet hat. Sein Gesicht ist erschreckend eingefallen und besteht praktisch nur noch aus Augen und Bart.
»Ich lass euch zwei mal ein bisschen allein«, sagt der Wächter. »Ihr habt euch sicher viel zu erzählen, und dazu sollt ihr Ruhe haben. Aber nicht zu lange! Und dass ihr mir nicht auf die Idee kommt, euch wieder zusammenzutun! Dann muss ich wieder Zeit verplempern, um euch auseinander zu reißen. Bringt sowieso nichts, außer Unannehmlichkeiten für beide Seiten. Verstanden?«
Ich tue so, als sei ich einverstanden, und nicke. Vielleicht hat er ja Recht. Wir würden nur wieder auseinander gerissen,
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