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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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hart und laut. Den Wolken nach zu urteilen würde es mich nicht wundern, wenn jeden Moment Schnee fiele. Aber es schneit nicht.
    »Heute wird es nicht schneien«, klärt mich der Alte auf. »Das da sind keine Schneewolken.«
    Ich öffne das Fenster und sehe mir den Himmel noch einmal genauer an, kann aber keinen Unterschied zu »Schneewolken« feststellen.

    Der Wächter sitzt ohne Schuhe vor seinem großen Kanonenofen und wärmt sich die Füße. Der Ofen sieht genauso aus wie der in der Bibliothek. Oben hat er zwei Platten für Kessel oder Töpfe, ganz unten eine Schublade für die Asche. Vorne sind Türen wie bei einer Kommode, mit großen gusseisernen Griffen. Der Wächter sitzt auf einem Stuhl, die Füße auf den Griffen. Von den Dampfschwaden des Wasserkessels und dem Rauch irgendeines billigen Krauts – offenbar der hier übliche Ersatz für Pfeifentabak – ist es im Zimmer so stickig, dass es mir den Atem verschlägt, ganz zu schweigen vom Gestank seiner Füße. Hinter dem Stuhl steht der große Holztisch, darauf liegen der Schleifstein und eine Menge blitzender Messer und Beile, ordentlich aufgereiht. Die Griffe sind verfärbt und sehen stark abgenutzt aus.
    Ich komme sofort zur Sache: »Ich brauche einen Schal, sonst ist es mir am Hals zu kalt.«
    »Das mag wohl sein!«, sagt der Wächter vollkommen ernst. »Kann ich gut verstehen.«
    »Im Archiv hinten in der Bibliothek liegen ein paar Sachen herum, die anscheinend niemand mehr braucht, und ich dachte, ich könnte mir vielleicht was davon nehmen.«
    »Ach, den Kram meinst du«, sagt der Wächter. »Den kannst du haben. In deinem Fall hab ich nichts dagegen. Nimm, was dir gefällt, Schals, Mäntel, alles.«
    »Und was ist mit den Besitzern?«
    »Um die brauchst du dich nicht zu kümmern. Selbst wenn es sie noch geben sollte – die Sachen da sind längst vergessen. Apropos – du suchst ein Musikinstrument, wie?«
    Ich nicke. Er scheint einfach alles zu wissen.
    »Hier in der Stadt gibt es grundsätzlich keine Musikinstrumente«, sagt er. »Aber absolut unmöglich ist nichts. Du machst deine Arbeit gewissenhaft, warum solltest du dann nicht auch dein Instrument bekommen? Geh zum Kraftwerk und frag dort mal den Verwalter. Vielleicht kann der dir eins besorgen.«
    »Zum Kraftwerk?«, frage ich überrascht.
    »Was hast du denn gedacht, selbstverständlich haben wir ein Kraftwerk!«, sagt der Wächter und deutet auf die Glühbirne über seinem Kopf. »Wo soll denn der Strom sonst herkommen – aus den Apfelbäumchen vielleicht?« Lachend zeichnet er mir auf, wie ich zum Kraftwerk komme. »Du nimmst den Weg südlich des Flusses und gehst eine Weile flussauf. Nach ungefähr einer halben Stunde siehst du rechter Hand einen alten Getreidespeicher, der schon kein Dach und kein Tor mehr hat. Dort biegst du rechts ab und folgst dem Weg bis zu einer Anhöhe; hinter dieser Anhöhe beginnt der Wald. Wenn du ungefähr fünfhundert Meter in den Wald hineingehst, kommst du zum Kraftwerk. Verstanden?«
    »Ich glaube, ja«, sage ich. »Aber ist es nicht gefährlich, im Winter den Wald zu betreten? Alle warnen mich davor, und ich hab schon eine schlimme Erfahrung hinter mir.«
    »Ach ja, richtig. Hatte ich jetzt ganz vergessen. Ich hab dich ja selbst auf den Wagen geladen und über die Anhöhe zurück in die Stadt gefahren«, sagt der Wächter. »Hast du dich inzwischen erholt?«
    »Ja, alles bestens. Danke.«
    »Hast wohl erst mal die Nase voll, was?«
    »Könnte man so sagen, ja.«
    Der Wächter grinst breit und ändert die Position seiner Füße auf den Ofengriffen. »Aber das ist gut so. Die Menschen werden vorsichtig, wenn sie sich einmal die Finger verbrannt haben. Und wenn sie vorsichtig sind, verletzen sie sich nicht mehr. Die besten Holzfäller sind die mit einer Narbe. Nur eine, nicht mehr und nicht weniger. Du verstehst, was ich meine?«
    Ich nicke.
    »Aber du brauchst keine Angst davor zu haben, zum Kraftwerk zu gehen. Es liegt gleich hinter den ersten Bäumen, nur ein einziger Weg führt hin, du kannst dich also nicht verlaufen. Das Waldpack triffst du dort auch nicht. Gefährlich ist es nur tief im Wald und direkt an der Mauer. Wenn du diese Stellen meidest, brauchst du dich nicht zu fürchten. Aber den Weg darfst du unter keinen Umständen verlassen, und du darfst auch nicht jenseits des Kraftwerks tiefer in den Wald gehen. Sonst passiert dir wieder so etwas wie letztes Mal!«
    »Gehört der Verwalter des Kraftwerks zu den Leuten, die im Wald leben?«
    »Nein,

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