Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
kaum dass wir zusammen wären. Und dann finge alles bloß wieder von vorne an.
Mit den Augen verfolgen wir, wie der Wächter das Tor abschließt und in seiner Hütte verschwindet: Seine Spikes fressen sich in den Boden, das Kratzen und Knirschen entfernt sich langsam, endlich fällt die schwere Holztür ins Schloss. Als er weg ist, setzt sich der Schatten neben mich und beginnt genau wie ich, mit seinen Absätzen auf dem Boden herumzuscharren. Er hat einen steifen, grobmaschigen Pullover, eine Arbeitshose und die alten Stiefel an, die ich ihm geschenkt habe.
»Na, wie geht’s?«, frage ich.
»Siehst du doch!«, antwortet er. »Es ist viel zu kalt, und das Essen ist fürchterlich.«
»Ich hab gehört, du darfst jeden Tag raus, zur Bewegung.«
»Bewegung?«, wiederholt er und sieht mich empört an. »Schöne Bewegung! Ich muss dem Wächter helfen, die Tiere zu verbrennen, nur dafür schleppt er mich jeden Tag hier raus! Kadaver aufladen, zum Apfelwäldchen fahren, Kadaver abladen, mit Öl übergießen und verbrennen. Vorher hackt er ihnen fein säuberlich den Kopf ab. Du hast doch seine tolle Kollektion gesehen, oder? Nichts als Messer und Beile. Der Kerl ist nicht ganz bei Trost, das kann man drehen und wenden, wie man will. Wenn man ihn ließe, würde er am liebsten durch die Welt rennen und alles abschneiden, was ihm zwischen die Finger kommt – schnippschnapp, schnipp-schnapp!«
»Er ist doch einer aus der Stadt, oder?«
»Nein, nein! Die haben den Kerl bloß angestellt. Der freut sich doch richtig, wenn er die Tiere verbrennen kann! Daran würde einer aus der Stadt nicht mal im Traum denken. Seit Wintereinbruch haben wir schon eine Unmenge Tiere verbrannt. Heute Morgen waren drei tot. Die werden gleich verbrannt.«
Er scharrt wieder eine Weile mit seinen Absätzen auf dem Boden herum, ich auch. Die Erde ist hart wie Stein. Auf einem Ast über uns sitzt ein Wintervogel. Er stößt einen spitzen Schrei aus und fliegt weg.
»Die Karte hab ich gefunden«, sagt er. »Sie ist besser, als ich erwartet hatte. Auch die Erläuterungen sind gut. Kam nur ein bisschen zu spät.«
»Ich war furchtbar krank«, sage ich.
»Hab davon gehört. Aber es war trotzdem zu spät. Der Winter hatte schon eingesetzt, und ich wollte sie vorher haben. Dann wäre alles glatt gelaufen, und den Plan hätten wir auch schon fertig haben können.«
»Welchen Plan?«
»Na, wie wir hier ausbrechen natürlich! Was denn sonst, Mensch? Hast du etwa gedacht, ich hätte die Karte nur zum Spaß haben wollen?«
Ich schüttele den Kopf. »Ich habe gehofft, du könntest mir erklären, was es mit dieser seltsamen Stadt auf sich hat. Du hast schließlich fast alle meine Erinnerungen mitgenommen.«
»Das stimmt nicht ganz«, sagt der Schatten. »Sicher, ich besitze den Großteil deiner Erinnerung, aber ich kann nichts Vernünftiges damit anfangen. Dazu müssten wir erst wieder zusammenkommen. Das ist gegenwärtig unmöglich. Wenn wir das täten, würden sie uns nie mehr zueinander lassen und der Plan käme erst gar nicht zustande. Deshalb hab ich mir erst mal alleine Gedanken gemacht. Über den Sinn dieser Stadt, meine ich.«
»Und, hast du was rausbekommen?«
»Ja, ein bisschen, aber das kann ich dir jetzt noch nicht sagen. Ich muss die Anhaltspunkte noch miteinander verbinden, für sich genommen haben sie keine Überzeugungskraft. Lass mir noch ein bisschen Zeit. Ich werd schon noch was rauskriegen, wenn ich lange genug nachdenke.Vielleicht ist es dann aber schon zu spät. Nach Einbruch des Winters ist es mit mir jedenfalls rapide bergab gegangen, und wenn das so weitergeht, kann ich nicht mal dafür garantieren, dass ich genügend Kraft haben werde, den Fluchtplan auch durchzuführen, gesetzt den Fall, wir stellen ihn überhaupt fertig. Deshalb wollte ich die Karte unbedingt vor Wintereinbruch haben.«
Ich schaue zur Ulmenkrone auf. Durch das Gitter ihrer dicken Äste sehe ich Fetzen dunkler Winterwolken.
»Aber wir kommen hier nicht raus«, sage ich. »Du hast die Karte doch selbst gesehen! Es gibt keinen Fluchtweg. Hier ist das Ende der Welt. Wir können nicht vor und nicht zurück.«
»Hier mag das Ende der Welt sein, aber es gibt trotzdem einen Ausgang. Mit Sicherheit, das weiß ich. Am Himmel steht geschrieben, dass es einen Ausweg gibt. Die Vögel können die Mauer doch überwinden, oder? Wohin fliegen sie denn? Nach draußen natürlich, in eine andere Welt. Hinter der Mauer liegt ohne Zweifel eine andere Welt, und nur deshalb ist
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