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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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ohne Brüche. Überspitzt formuliert, speist sie sich aus dieser motivischen Lauterkeit … äh, haben Sie Platon gelesen?«
    »So gut wie nicht«, sagte ich. »Aber kommen Sie doch bitte zur Sache. Die motivische Lauterkeit wissenschaftlicher Forschung habe ich begriffen.«
    »Verzeihen Sie. Ich wollte nur sagen, dass diese Lauterkeit mitunter vielen Menschen zum Schaden gereichen kann. Auf dieselbe Weise, wie Naturereignisse dem Menschen zum Schaden gereichen können. Vulkane, die ganze Städte unter ihren Lavamassen begraben, Überschwemmungen, die Menschen mit fortreißen, Erdbeben, die Verwüstungen anrichten – doch darf man daraus folgern, dass solche Naturereignisse an sich böse …«
    »Großvater!«, warf das dicke Mädchen ein. »Haben wir wirklich Zeit für so weitschweifige Erklärungen?«
    »Du hast Recht, mein Kind, du hast Recht«, sagte der Professor und tätschelte die Hand seiner Enkelin. »Äh, womit fange ich an? Die Dinge linear und eingleisig zu begreifen liegt mir nicht, was soll ich denn wie erklären?«
    »Sie haben mir Zahlenmaterial zum Shuffeln gegeben, nicht wahr? Was hatte es damit auf sich?«
    »Um das zu erklären, muss ich drei Jahre zurückgreifen.«
    »Bitte, greifen Sie zurück!«
    »Ich arbeitete damals im Forschungslabor des Systems. Allerdings nicht als regulärer wissenschaftlicher Mitarbeiter, sondern sozusagen als Leiter eines privaten Stabes. Ich hatte vier, fünf Leute unter mir, ein bestens bestücktes Institut und ein unbeschränktes Budget. Das Budget war mir egal, und abhängig zu arbeiten ist mir eigentlich zuwider, doch das System bot reiches Experimentiermaterial, das anderweitig kaum zu bekommen gewesen wäre. Die Ergebnisse meiner Studien in der Praxis testen zu können war eine Verlockung, der ich nicht widerstehen konnte.
    Das System befand sich damals in einer ziemlichen Krise. Die zum Schutz der Daten ersonnenen Scrambling-Systeme hatten die Semioten praktisch samt und sonders geknackt. Wenn das System seine Verfahren komplizierte, zogen die Semioten in einer Spirale ohne Ende mit noch komplizierteren Entschlüsselungstechniken nach. Eine Art Zaunziehwettbewerb: Einer zieht einen Zaun um sein Haus, der Nachbar errichtet einen höheren. Irgendwann werden die Zäune so hoch, dass sie gar keinen praktischen Sinn mehr haben. Was aber keineswegs dazu führt, dass einer nachgäbe. Wer nachgibt, verliert. Wer verliert, verliert seine Existenzberechtigung. Da entschloss sich das System, ein Scrambling-Verfahren zu entwickeln, das auf ganz anderen Prinzipien beruhte, ein schlichtes, aber entschlüsselungssicheres Verfahren. Und berief mich an die Spitze der Forschercrew.
    Sie hatten genau die richtige Wahl getroffen. Auf dem Gebiet der Neurophysiologie war ich damals – und natürlich bin ich das auch heute noch – der fähigste und der ambitionierteste Wissenschaftler. Zwar wurde ich von der Wissenschaftsgemeinde ignoriert, weil ich weder Aufsätze publizierte noch auf Tagungen Vorträge hielt – solchen Tinnef ersparte ich mir –, aber an mein Wissen über das menschliche Gehirn reichte niemand heran. Das System wusste das. Und genau deshalb berief man mich. Man wollte eine völlige Neustrukturierung. Keine Verkomplizierung bestehender Verfahren, kein zusätzliches Raffinement, sondern eine drastische, bis in die Wurzeln gehende Umstrukturierung, etwas ganz Neues. Wissenschaftler, die sich von morgens bis abends in den Studierzimmern ihrer Universitäten mit alberner Aufsatzschreiberei abmühen oder ihre Gehälter nachrechnen, können so etwas von vornherein nicht leisten. Ein wirklich schöpferischer Wissenschaftler muss unabhängig sein.«
    »Aber mit dem Eintritt ins System haben Sie diese Unabhängigkeit doch aufgegeben, nicht wahr?«, fragte ich.
    »So ist es, so ist es«, sagte der Professor. »Sie haben völlig Recht. Auch das war nicht richtig. Ich bereue es nicht, aber es war nicht richtig. Ich wollte nur unbedingt – das soll keine Rechtfertigung sein, verstehen Sie mich nicht falsch – die Theorie, die ich hatte, in die Praxis umsetzen. In meinem Kopf lag sie fix und fertig vor, aber ich hatte keine Möglichkeit, sie in der Praxis zu überprüfen. Das ist ein Schwachpunkt der Gehirnphysiologie des Menschen, man kann nicht einfach wie andere Physiologien mit Tieren experimentieren. Affenhirne verfügen hinsichtlich tiefenpsychologischer oder mnemotechnischer Fragestellungen über eine nur ungenügend komplexe Struktur.«
    »Also haben Sie uns als

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