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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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die Stadt von einer Mauer umgeben – damit die Menschen nicht hinauskönnen. Wenn da nichts wäre, müsste man keine Mauer bauen. Und einen Ausgang gibt es bestimmt auch irgendwo.«
    »Oder auch nicht«, sage ich.
    »Ich werde diesen Ausgang finden und dann mit dir zusammen von hier fliehen. In dieser gottverdammten Stadt will ich nicht sterben!« Der Schatten verstummt und scharrt wieder auf dem Boden herum. »Ich hab’s dir am Anfang schon mal gesagt, glaube ich, mit der Stadt hier stimmt etwas nicht, sie ist unnatürlich«, sagt er. »Und davon bin ich immer noch überzeugt. Unnatürlich und verkehrt ist sie. Aber das Problem ist, dass sie darin vollkommen ist. Weil alles unnatürlich und verdreht ist, ist letztendlich alles in sich stimmig. Perfekt. So ungefähr.« Er malt mit dem Absatz einen Kreis auf den Boden. »Der Kreis schließt sich. Deshalb, wenn man lange genug hier ist und hin und her überlegt, muss es einem langsam, aber sicher so vorkommen, als ob die Recht hätten und man selbst schief läge. Eben weil bei ihnen alles so gut zusammenpasst, so perfekt aussieht. Verstehst du, was ich meine?«
    »Ja, verstehe. Genau das hab ich nämlich manchmal auch schon gedacht.«
    »Aber es stimmt nicht!«, sagt der Schatten und malt dabei sonderbare Figuren neben den Kreis. »Wir haben Recht und die liegen schief. Wir sind natürlich, die sind unnatürlich. Daran musst du glauben, und zwar mit aller Kraft. Wenn du das nämlich nicht tust, wirst du selbst früher oder später von der Stadt verschlungen, ohne dass du es merkst. Und dann ist alles zu spät.«
    »Aber richtig und falsch – das ist doch immer relativ! Und meine Erinnerungen, das wichtigste Kriterium, um beides gegeneinander abwägen zu können, sind mir genommen worden.«
    Der Schatten nickt. »Ich verstehe ja, dass du verwirrt bist. Aber überleg mal: Glaubst du, dass es ein Perpetuum mobile geben kann?«
    »Nein. Das ist prinzipiell unmöglich.«
    »Eben. Und genauso verhält es sich mit der Stadt: Eine vollendete, perfekte Welt ist prinzipiell und überall so unmöglich wie ein Perpetuum mobile. Aber diese Welt hier ist perfekt. Folglich muss es irgendwo einen Haken geben. Genau wie bei den Maschinen, die sich scheinbar von selbst ständig weiterbewegen, die aber trotzdem irgendeine versteckte äußere Kraft nutzen, die dem bloßen Auge verborgen bleibt.«
    »Und die hast du entdeckt?«
    »Nein, noch nicht. Aber, wie ich eben schon sagte, ich habe eine These, die ich noch untermauern muss. Und dazu brauche ich noch etwas Zeit.«
    »Ich könnte dir vielleicht dabei helfen, wenn du mir deine These verrätst, was meinst du?«
    Der Schatten zieht die Hände aus den Hosentaschen, haucht sie an und reibt sie zwischen den Knien. »Nein. Für dich wird das unmöglich sein. Ich bin nur körperlich angeschlagen, aber bei dir ist die Seele verletzt. Die wieder zu heilen ist deine vordringliche Aufgabe. Sonst sind wir beide verloren, bevor wir noch fliehen können. Überlass das Denken nur mir und kümmere dich erst mal um dich selbst. Das ist jetzt das Wichtigste.«
    Ich blicke auf den Kreis am Boden und sage: »Du hast schon Recht, ich bin verwirrt. Ich weiß nicht mehr weiter, weiß nicht einmal, was ich früher für ein Mensch gewesen bin. Wie viel Kraft kann denn eine Seele schon aufbringen, die ihre Identität verloren hat? Noch dazu in einer Stadt, die diese immense Macht besitzt und so starke Maßregeln setzt! Seit der Winter da ist, weiß ich über meine Seele immer weniger und hab kaum noch Selbstbewusstsein.«
    »Das stimmt nicht«, sagt der Schatten. »Du hast deine Identität nicht verloren. Deine Erinnerung ist auf geschickte Weise verschüttet worden, nur deshalb bist du verwirrt. Du musst an deine innere Kraft glauben. Sonst reißt dich diese äußere Macht mit fort, und du bist verloren!«
    »Ich werde tun, was ich kann«, sage ich.
    Der Schatten nickt, sieht eine Weile zum bewölkten Himmel auf, schließt aber bald die Augen und versinkt in Gedanken.
    »Wenn ich unsicher bin, sehe ich mir immer die Vögel an«, sagt er. »Dann spüre ich ganz deutlich, dass ich Recht habe. Den Vögeln ist diese ganze perfekte Stadt schnurzpiepegal. Sie kümmern sich weder um Mauer, Tor noch Horn. Nimm dir ein Beispiel an ihnen, wenn du mal wieder nicht weiter weißt!«
    In dem Moment ruft mich der Wächter. Er steht am Tor des Käfigs und bedeutet mir, die Besuchszeit sei vorüber.
    »Komm mich jetzt eine Zeit lang nicht besuchen«, flüstert der Schatten

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