Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
Versuchskaninchen benutzt«, sagte ich.
»Immer langsam, so schnell schießen wir nicht. Zuerst will ich in schlichten Worten meine Theorie erläutern. Hinsichtlich Kodes gibt es eine Standardauffassung, die da lautet: Kodes, die nicht zu knacken sind, gibt es nicht. Diese Auffassung ist richtig. Sie ist deshalb richtig, weil ein Kode immer auf einem bestimmten Prinzip aufbaut. Und ein Prinzip, wie komplex und raffiniert es auch sein mag, ist eine Art psychische Instanz, die letztendlich viele Menschen teilen und begreifen können. Wer das Prinzip begreift, kann daher den Kode entschlüsseln. Das verlässlichste Kodierverfahren ist das Buch-Buch-System – das heißt ein System, bei dem zum Kodieren und zum Entschlüsseln bestimmte Wörter bestimmter Seiten und Zeilen ein und desselben Buches benutzt werden, das beide Seiten besitzen. Doch dieser Kode hält nur, solange man nicht weiß, um welches Buch es sich handelt. Die Benutzer müssen es immer in ihrer Nähe haben. Das ist sehr riskant.
Hier setzten meine Überlegungen ein. Es gibt nur einen Weg, einen hundertprozentig sicheren Kode zu schaffen: Man muss auf der Basis eines Systems verzerren, das niemand begreift. Die Verzerrung der Daten muss, mit anderen Worten, in einer perfekten Black Box erfolgen, und die Entzerrung ebenso. Inhalt und Prinzip der Black Box dürfen selbst dem Verschlüsselnden nicht bekannt sein. Der Kodierer – und Dekodierer – kann die Box benutzen, obwohl er nicht weiß, was sie ist. Und da es der Betreffende selbst nicht weiß, können die Daten auch mit Gewalt nicht entwendet werden. Perfekt, nicht wahr?«
»Diese Black Box ist das Unterbewusstsein, ja?«
»Ganz recht. Lassen Sie mich weiter erklären. Jeder Mensch handelt aufgrund ureigener, spezifischer Prinzipien. Zwei identische Menschen existieren nicht. Es geht, kurz, um das Problem der Identität. Was ist Identität? Identität ist aufgrund angehäufter Erfahrungswerte entstandene Individualität der Denkstruktur. Einfacher ausgedrückt: die Seele, das Herz eines Menschen. Jeder Mensch hat ein anderes, zwei gleiche gibt es nicht. Doch der Mensch begreift seine eigene Psychostruktur so gut wie gar nicht. Das ist bei mir so und bei Ihnen nicht anders. Was wir begreifen oder zu begreifen meinen, sind allenfalls fünf bis sieben Prozent dieser Struktur. Das ist nicht einmal die berühmte Spitze des Eisbergs. Versuchen wir es mal mit einer einfachen Frage: Sind Sie mutig oder feige?«
»Ich weiß nicht«, antwortete ich ehrlich. »Manchmal mutig, manchmal feige. Absolut lässt sich das nicht sagen.«
»Genauso verhält es sich mit der Psychostruktur. Nichts ist absolut. Je nach Situation und Anforderung wählen Sie automatisch und beinahe augenblicklich irgendeinen Punkt zwischen den Extremen Feigheit und Mut. So genau und präzise ist Ihr internes Programm. Doch über den Inhalt und die Struktur dieses Programms wissen Sie so gut wie nichts. Das brauchen Sie auch gar nicht. Sie funktionieren als Sie selbst auch ohne dieses Wissen. Genau das meine ich mit Black Box. In unserem Hirn befindet sich sozusagen ein gigantischer Elefantenfriedhof, den noch nie eines Menschen Fuß betreten hat, der Menschheit – abgesehen vom All – letzte Terra incognita.
Nein, Elefantenfriedhof ist nicht der richtige Ausdruck. Denn dort lagert ja nicht tote Psyche. Genauer müsste man von Elefanten fabrik sprechen. Dort werden Myriaden von Erinnerungs- und Erkenntnischips sortiert und zu komplexen Strängen verbunden, die ihrerseits komplexe Bündel bilden, aus denen ein System entsteht. Das ist in der Tat eine Fabrik. Eine Fabrik, die produziert. Chef der Fabrik sind Sie, doch besichtigen können Sie sie leider nicht. Zum Eintauchen bedarf es, wie in Alice im Wunderland, einer besonderen Medizin. Lewis Carroll hat da wirklich ein Meisterstück geliefert.«
»Unser Verhalten wird demnach bestimmt von den Instruktionen, die von dieser Elefantenfabrik ausgehen, ja?«
»Ganz recht«, sagte der Alte. »Das heißt …«
»Einen Augenblick!«, unterbrach ich ihn. »Ich habe eine Frage.«
»Bitte, bitte.«
»Im Wesentlichen ist mir das klar. Doch Verhalten kann nicht wirklich bis hin zu an der Oberfläche vollzogenen Handlungen determiniert werden. Ob ich morgens zum Brot Milch trinke, Kaffee oder Tee, hängt das nicht bloß von meiner Laune ab?«
»In der Tat«, sagte der Professor und nickte. »Das Unterbewusstsein unterliegt ständigem Wandel, das ist ein weiteres Problem. Es ist, um eine
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