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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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hier verloren haben. Alles, was Sie verloren haben, und alles, was Sie zu verlieren im Begriff sind.«
    »Was ich verloren habe?«
    »Ja«, sagte der Professor. »Was Sie verloren haben. Es ist alles dort.«

26  DAS ENDE DER WELT
DAS KRAFTWERK
    Nach dem Traumlesen erzähle ich der Bibliothekarin, dass ich zum Kraftwerk gehen will. Ihre Miene verdunkelt sich. »Das Kraftwerk liegt im Wald!«, sagt sie und füllt rot glühende Kohlestücke in einen Eimer, um sie mit Sand zu löschen.
    »Ja, aber nicht weit drin«, sage ich. »Und der Wächter meint, dort sei es vollkommen ungefährlich.«
    »Ach, weiß der Himmel, was der Wächter meint! Das Kraftwerk liegt im Wald, ob weit drin oder nicht, und der Wald ist gefährlich.«
    »Versuchen werde ich es jedenfalls mal. Ich will unbedingt ein Musikinstrument haben.«
    Sie hat die ganze Kohle herausgeholt. Jetzt zieht sie die Aschenlade heraus und leert sie über dem Eimer. Dabei schüttelt sie immer wieder den Kopf.
    »Ich komme mit«, sagt sie.
    »Warum? Du fürchtest dich doch vor dem Wald, oder? Außerdem will ich dich nicht in die Sache hineinziehen.«
    »Man kann dich aber nicht alleine lassen. Anscheinend hast du immer noch nicht begriffen, wie gefährlich der Wald ist!«

    An einem bewölkten Morgen gehen wir am Fluss entlang, Richtung Osten. Es ist frühlingshaft warm. Es geht kein Wind, und auch der Fluss rauscht nicht mehr hell und kalt, sondern irgendwie dunkler. Nach einer Viertelstunde ziehe ich mir Handschuhe und Schal aus.
    »Wie im Frühling, nicht?«, sage ich.
    »Ja. Aber diese Wärme hält immer nur einen Tag. Das ist jedes Jahr so. Danach setzt sofort der Winter wieder ein«, entgegnet sie.
    Sobald wir das dünn besiedelte Gebiet südlich der Brücke hinter uns gelassen haben, sind rechter Hand nur noch Felder zu sehen; das Kopfsteinpflaster endet, die Straße mündet in einen schmalen Lehmweg. Wie Kratzwunden ziehen sich zwischen den Rainen ein paar Linien festgefrorenen Schnees über die Felder. Das Flussufer links von uns wird von Weiden gesäumt, die ihre biegsamen Zweige ins Wasser tauchen. Ein Vögelchen lässt sich auf diesem unsicheren Terrain nieder, versucht immer wieder, sich auf dem Weidenzweig zu halten, doch der schwingt hin und her – schließlich gibt der kleine Vogel auf und fliegt zu einem anderen Baum. Das Sonnenlicht ist matt und sanft. Ich halte immer wieder mein Gesicht hinein, um diese ruhige Wärme auszukosten. Die Bibliothekarin hat ihre rechte Hand in ihre, die linke in meine Manteltasche geschoben. Ich halte in der linken Hand einen kleinen Koffer und mit der rechten ihre Hand in der Tasche. Der Koffer enthält unser Mittagessen und Geschenke für den Verwalter.
    Ich spüre ihre warme Hand in meiner und denke bei mir: Wenn der Frühling erst da ist, wird bestimmt alles einfacher. Wenn meine Seele den Winter übersteht und der Schatten durchhält, kriege ich meine Seele schon wieder in den Griff. Wie der Schatten sagte, ich muss nur den Winter besiegen.
    Gemächlich gehen wir flussaufwärts und genießen die Landschaft. Die ganze Zeit reden wir kaum – nicht, weil wir uns nichts zu sagen haben, sondern weil Worte nicht nötig sind. Die weißen Schneereste entlang der Gräben im Boden, die roten Beeren in den Vogelschnäbeln, das feste, fleischige Wintergemüse auf den Feldern, das klare Wasser in den kleinen Becken im Flusslauf, die schneebedeckten Berghänge – das alles prägen wir uns genau ein, während wir vorüberwandern. Was wir auch erblicken, scheint sich mit der plötzlichen, vergänglichen Wärme voll zu saugen, scheint sie eindringen zu lassen in jeden Winkel ihres Daseins. Sogar dem von Wolken verhangenen Himmel fehlt die drückende Schwere. Ich spüre eine seltsame Geborgenheit, als läge unsere kleine Welt wohlbehütet in einer sanften Hand.
    Wir sehen auch ein paar Tiere auf den verdorrten Wiesen umherirren und nach Futter suchen. Ihr goldenes Fell hat einen matten, weißlichen Schimmer bekommen und ist viel länger und dichter als im Herbst. Trotzdem sieht man ihnen deutlich an, dass sie inzwischen stark abgemagert sind. Die Nackenknochen treten so klar und deutlich hervor wie die Sprungfedern eines alten Sofas, die Köpfe sind nur noch Haut und Knochen, die Backen hängen schlaff herunter. Die Augen haben ihren Glanz verloren, die Kniegelenke stehen kugelförmig dick heraus. Nur an dem weißen Horn, das ihnen mitten aus der Stirn wächst, hat sich nichts verändert. Es erhebt sich genauso gerade und

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