Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
sehe sie an, aber sie fragt nicht weiter.
27 HARD-BOILED WONDERLAND
DER ENZYKLOPÄDIESTAB, UNSTERBLICHKEIT, BÜROKLAMMERN
»Na großartig«, sagte ich. »Und man kann wirklich gar nichts mehr tun? Wie steht denn die Lage im Moment, nach Ihren Berechnungen?«
»Die Lage in Ihrem Kopf?«, sagte der Professor.
»Natürlich«, sagte ich. Welche Lage denn sonst! »Wie weit ist die Zerstörung schon fortgeschritten?«
»Nach meinen Berechnungen ist Weiche B wahrscheinlich schon vor etwa sechs Stunden geschmolzen. Was natürlich nicht heißt – das Wort schmelzen ist nur ein terminologischer Behelf –, dass ein Teil Ihres Gehirns geschmolzen wäre, sondern …«
»Dass der zweite Schaltkreis tot und der dritte fixiert ist, nicht wahr?«
»Ganz recht. Der Überbrückungsprozess, von dem ich eben sprach, hat also bereits eingesetzt. Mit anderen Worten, die Produktion von Erinnerung. Es werden, wenn ich eine Metapher gebrauchen darf, den Veränderungen in Ihrer unterbewussten Elefantenfabrik entsprechend die Röhren zum Oberflächenbewusstsein neu verlegt.«
»Heißt das«, sagte ich, »dass auch Weiche A nicht mehr ordentlich funktioniert? Dass also aus dem unterbewussten Schaltkreis Daten heraussickern?«
»Nicht ganz«, sagte der Professor. »Die Röhren existieren immer und dürfen nicht unterbrochen werden, egal, wie viele Schaltkreise aufgefächert werden. Das heißt, Ihr Oberflächenbewusstsein, Ihr Schaltkreis 1 also, speist sich aus Ihrem Unterbewussten, will sagen Schaltkreis 2. Diese Röhre ist die Wurzel des Baumes, zugleich ist sie auch die Erdung. Ohne sie kann das Hirn des Menschen nicht arbeiten. Wir haben sie deshalb nicht angetastet bzw. eine Minimalstruktur belassen, sodass keine unerwünschten Lecks oder Gegenströmungen auftreten. In Ihrem Fall hat diese Röhre aber aufgrund der durch das Schmelzen von Weiche B freigesetzten Energie einen irreparablen Schaden erlitten. Das Gehirn reagiert darauf mit einem Überbrückungsprozess.«
»Setzt sich diese Produktion neuer Erinnerungen immer weiter fort?«
»Ja. Sie haben, einfach ausgedrückt, Déjà-vus. Das Prinzip ist dasselbe. Das wird eine Weile anhalten. Bis Sie schließlich mit den produzierten Erinnerungen die Welt neu strukturieren.«
»Die Welt neu strukturieren?«
»Ja. Sie bereiten gerade Ihren Übergang in eine andere Welt vor. Deshalb verändert sich auch Stück für Stück die Welt, in der Sie sich gerade befinden. So ist das mit der Erkenntnis. Eine einzige Erkenntnis verändert die Welt. Natürlich ist die Welt jetzt und hier so, wie sie ist. Phänomenologisch betrachtet, ist sie jedoch nur eine aus einer unendlichen Zahl von Welten. Überspitzt könnte man sagen, dass sich die Welt schon ändert, je nachdem, ob Sie Ihren rechten oder Ihren linken Fuß vorsetzen. Da muss es nicht wundern, dass sie sich ändert, wenn die Erinnerungen sich ändern.«
»Klingt ziemlich sophistisch«, sagte ich. »Und zu abstrakt. Außerdem vergessen Sie die Zeitlichkeit. Solche Probleme können nur innerhalb eines Zeitparadoxons auftreten.«
»In gewissem Sinne handelt es sich um ein Zeitparadox«, sagte der Professor. »Sie produzieren Erinnerung und kreieren damit eine individuelle parallele Welt.«
»Die Welt, die ich jetzt erfahre, verschiebt sich also Stück für Stück von der, die ich ursprünglich kannte?«
»Genau weiß man das nicht, und beweisen kann es niemand. Ich sage nur, dass diese Möglichkeit nicht auszuschließen ist. Ich spreche natürlich nicht von so extremen parallelen Welten, wie SF-Romanciers sie erfinden. Das Ganze ist, ich sage es noch einmal, ein Problem der Erkenntnis. Die Gestalt der Welt hängt ab von der Art und Weise, wie sie gesehen wird. Diese Gestalt, denke ich, wird sich in vielerlei Hinsicht ändern.«
»Danach wird Weiche A umgelegt, und eine ganz andere Welt taucht auf, in der ich werde leben müssen, nicht wahr? Und an der Konversion führt kein Weg vorbei, ich kann nur noch abwarten und Tee trinken, ja?«
»So ist es.«
»Wie lange wird diese Welt andauern?«
»Ewig«, sagte der Professor.
»Das verstehe ich nicht«, sagte ich. »Wieso ewig ? Die Physis lebt nicht ewig. Mit dem Körper stirbt auch das Gehirn. Und mit dem Gehirn das Bewusstsein. Ist es nicht so?«
»Nein. Das Denken kennt keine Zeit. Das ist der Unterschied zwischen Denken und Träumen. Das Denken kann alles im Augenblick erfassen. Es kann auch Ewigkeit erfahren. Es kann einen geschlossenen Kreislauf einrichten und sich darin in
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