Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
möglichen Abweichung von plus minus fünfundvierzig Minuten. Ich habe auf zwölf Uhr mittags programmiert, das ist leichter zu merken. Also morgen Mittag um zwölf.«
Damit es leichter zu merken war? Ich schüttelte den Kopf. Und trank noch einen Schluck Whiskey. Doch der Alkohol wirkte nicht. Es schmeckte nicht einmal nach Whiskey. Mein Magen war wie versteinert.
Das Mädchen legte mir die Hand aufs Knie. »Was willst du nun tun?«, fragte es.
»Keine Ahnung«, sagte ich. »Auf alle Fälle will ich aber hier raus. Hier unten möchte ich die Dinge nicht abwarten. Ich will hoch, ans Licht. Alles andere überleg ich mir später.«
»Waren meine Erläuterungen ausführlich genug?«, fragte der Professor.
»Ja, danke«, antwortete ich.
»Sie sind wütend auf mich, nicht wahr?«
»Ein bisschen, ja«, sagte ich. »Aber Wut bringt mich nicht weiter; außerdem ist das Ganze so hanebüchen, dass ich es noch gar nicht richtig fassen kann. Die Wut kommt wahrscheinlich später. Aber dann bin ich vermutlich in dieser Welt schon tot.«
»Ich wollte Ihnen das alles gar nicht so genau erklären«, sagte der Professor. »So etwas ist besser vorbei, bevor man weiß, was los ist. Psychisch wäre es bestimmt leichter gewesen. Aber vergessen Sie nicht: Sie sterben nicht. Sie verlieren nur auf ewig das Bewusstsein.«
»Wo ist da der Unterschied?«, sagte ich. »Aber egal, ich wollte jedenfalls Bescheid wissen. Immerhin ist es mein Leben. Ich wollte nicht, dass der Schalter ohne mein Wissen umgelegt wird. Ich nehme mich selbst in die Hand. Wo ist der Ausgang, bitte?«
»Der Ausgang?«
»Der Ausgang nach oben, ans Tageslicht.«
»Der Weg kostet Zeit und führt direkt am Nest der Schwärzlinge vorbei. Wollen Sie trotzdem gehen?«
»Ja. Wovor sollte ich jetzt noch Angst haben?«
»Gut«, sagte der Professor. »Steigen Sie den Berg hinunter bis zum Wasser. Es dürfte sich mittlerweile beruhigt haben, Sie können es leicht durchschwimmen. Schwimmen Sie immer Südsüdwest. Ich zeige Ihnen die Richtung mit der Lampe an. Wenn Sie sie einhalten, stoßen Sie am anderen Ufer auf einen kleinen Durchgang in der Wand, knapp über der Wasseroberfläche. Er führt zur Kanalisation. Die gehen Sie immer weiter, bis Sie zu den Gleisen kommen, zur U-Bahn.«
»Zur U-Bahn?«
»Ganz recht. Zur Ginza-Linie, ziemlich genau zwischen Gaiemmae und Aoyama Itchome.«
»Wieso gibt’s denn da eine Verbindung zur U-Bahn?«
»Weil das ganze Netz von den Schwärzlingen beherrscht wird. Nachts jedenfalls. Dann machen Sie sich großspurig in den Tunneln breit. Der Tokyoter U-Bahn-Bau hat den Aktionsradius der Biester enorm erweitert. Man hat ihnen praktisch Durchgänge gebaut. Ab und zu überfallen sie Gleisarbeiter und fressen sie auf.«
»Warum dringt denn nichts davon an die Öffentlichkeit?«
»Wenn man das bekannt machte, wäre ja nicht auszudenken, was passiert! Wer würde dann noch bei der U-Bahn arbeiten wollen? Wer würde noch fahren wollen? Die Behörden wissen es natürlich, man stellt sich darauf ein, verstärkt Wände, stopft Löcher, verbessert die Beleuchtung. Aber so ist den Schwärzlingen nicht beizukommen. Eine Wand können die in einer einzigen Nacht durchstoßen, Elektrokabel zernagen sie im Nu.«
»Wenn ich also zwischen Gaiemmae und Aoyama Itchome herauskomme, befinden wir uns hier wo?«
»Irgendwo unter dem Meiji-Schrein, Omotesando-Seite. Ganz genau weiß ich es selber nicht. Es gibt jedenfalls nur den einen Weg. Er ist eng und schlängelt sich hin und her, das kostet Zeit, aber verirren kann man sich nicht. Von hier bewegen Sie sich zuerst Richtung Sendagaya. Denken Sie daran, dass sich das Nest der Schwärzlinge ein Stück vor dem Nationalstadion befindet. Dort biegt der Weg nach rechts ab, führt weiter Richtung Jingu-Baseballstadion, von dort zum Kunstforum und zur Ginza-Linie, Aoyama-dori. Bis zum Ausgang brauchen Sie zirka zwei Stunden. Ist das in etwa klar?«
»Klar.«
»Am Nest der Schwärzlinge müssen Sie zusehen, rasch vorbeizukommen. Dort herumzutrödeln kann nur Ihr Schade sein. Und achten Sie auf die Bahn! Dort liegen Starkstromkabel, und die Züge fahren pausenlos. Es wird gerade Stoßzeit sein. Mit knapper Not hier raus und dann überfahren werden, das wäre doch nicht schön!«
»Ich pass auf«, sagte ich. »Apropos, was werden Sie denn nun tun?«
»Mein Fuß ist verstaucht, außerdem hätte ich nur das System und die Semioten auf den Fersen, wenn ich jetzt draußen auftauchte. Ich bleibe eine Weile hier.
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