Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
automatisch hinter dem Mädchen hertappte, rief ich mir noch einmal das Pärchen in dem Skyline in Erinnerung. Warum ich mich derart auf die beiden kaprizierte, war mir schleierhaft, doch ich wusste nicht, an was ich sonst hätte denken sollen. Was die beiden jetzt, morgens um halb neun, wohl machten? Ich konnte es mir nicht vorstellen. Vielleicht schliefen sie noch fest, vielleicht standen sie in der Bahn, jeder für sich, und fuhren zur Arbeit. Das eine oder das andere – was wusste ich. Zwischen der realen Welt und meiner Phantasie gab es keine vernünftige Verbindung mehr. Ein Fernsehspielautor würde einfach irgendeinen Plot entwerfen: Die Frau hat in Frankreich studiert und einen Franzosen geheiratet; der liegt nach einem Verkehrsunfall im Dauerkoma. Sie wird dieses Lebens überdrüssig, verlässt ihren Mann, kehrt nach Tokyo zurück und arbeitet bei der belgischen oder der Schweizer Botschaft. Die Silberkettchen sind ein Geschenk ihres Mannes. Rückblende: Der Strand von Nizza, Winter. Sie legt die Silberkettchen nie ab. Nicht im Bad, nicht bei der Liebe. Der Mann ist ein Ex-68er und trägt wie der Held in Wajdas Asche und Diamant ständig eine Sonnenbrille. Er ist Starregisseur beim Fernsehen und träumt oft Albträume von Tränengas. Seine Frau hat sich vor fünf Jahren die Pulsadern aufgeschnitten. Cut. (Ein Fernsehspiel mit wirklich vielen Cuts und Rückblenden.) Jedes Mal, wenn er die am linken Handgelenk der Frau baumelnden Silberkettchen sieht, muss er an das offene, blutige Handgelenk seiner Frau denken. Er bittet das Mädchen, die Silberkettchen rechts zu tragen. »Das geht nicht«, sagt sie. »Ich trage die Kettchen nur links.«
Einen Klavierspieler könnte man noch einsetzen, wie in Casablanca. Einen Alkoholiker. Auf dem Klavier steht immer ein Glas Gin, Gin mit einem Spritzer Lime. Der Klavierspieler ist ein gemeinsamer Freund der beiden, kennt beider Geheimnis. Er war ein begnadeter Jazzpianist, hat sich aber um Kopf und Kragen gesoffen.
An dieser Stelle gab ich auf, es wurde mir zu blöd. Der Plot hatte nicht das Geringste mit der Realität zu tun. Aber was ist Realität? Diese Frage stürzte mich nur noch mehr in Verwirrung. Die Realität ist stumpf und schwer wie ein randvoll mit Sand gefüllter Pappkarton, und sie ist unsinnig. Ich hatte schon Monate nicht mehr die Sterne gesehen!
»Ich halt’s nicht mehr aus!«, sagte ich.
»Was hältst du nicht mehr aus?«, fragte die Kleine.
»Alles, die Dunkelheit, den Modergeruch, die Schwärzlinge. Meine nassen Hosen, die Wunde am Bauch, alles, alles. Wir wissen noch nicht mal, wie das Wetter draußen ist. Welchen Wochentag haben wir heute?«
»Bald haben wir’s geschafft«, sagte sie. »Bald sind wir draußen.«
»In meinem Kopf geht alles durcheinander«, sagte ich. »Ich weiß nicht mehr genau, wie es draußen ist. Alle meine Gedanken laufen in die falsche Richtung.«
»Denk an nichts. Es dauert nicht mehr lange, dann sind wir draußen.«
Also dachte ich an nichts. Dabei wurde mir bewusst, dass mir die Hosen kalt an den Beinen klebten. Was meinen Körper unterkühlte und die Wunde wieder dumpf schmerzen ließ. Doch trotz der Kälte verspürte ich merkwürdigerweise nicht den Drang zu urinieren. Wann hatte ich eigentlich das letzte Mal gepinkelt? Ich kratzte sämtliche Erinnerungsfetzen zusammen und wühlte darin herum, vergeblich. Ich wusste es nicht mehr.
Seit wir in die Untererde abgetaucht waren, hatte ich jedenfalls nicht gepinkelt. Und davor? Davor hatte ich meinen Wagen gesteuert. Hatte einen Hamburger gegessen und das Pärchen in dem Skyline gesehen. Und davor? Davor hatte ich geschlafen. Die Dicke war gekommen und hatte mich geweckt. Hatte ich da gepinkelt? Nein, wahrscheinlich nicht. Sie hatte mich, so wie man Wäsche in einen Koffer stopft, mit beiden Händen wachgestampft und gleich mitgenommen. Zeit zum Pinkeln war nicht. Und davor? Daran konnte ich mich nicht mehr genau erinnern. Ich musste beim Arzt gewesen sein. Er hatte mir den Bauch genäht. Aber was für ein Arzt? Keine Ahnung. Jedenfalls ein Arzt. Ein Arzt im weißen Kittel hatte mir knapp über der Schambehaarung den Bauch zusammengenäht. Hatte ich davor gepinkelt?
Keine Ahnung.
Wahrscheinlich nicht. Wenn ich davor gepinkelt hätte, hätte ich wegen der Wunde mit Sicherheit Schmerzen dabei gehabt und könnte mich erinnern. Ich erinnerte mich aber nicht, also hatte ich bestimmt nicht gepinkelt. Demnach hatte ich also schon ziemlich lange nicht mehr gepinkelt. Wie
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