Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
viele Stunden?
Die Zeit. In meinem Kopf ging es zu wie in einem Hühnerstall am frühen Morgen. Zwölf Stunden? Achtundzwanzig Stunden? Zweiunddreißig? Wohin war mein Harn verschwunden? Ich hatte doch Bier getrunken, Cola, Whiskey! Wo war das denn alles hin?
Halt, den Bauch hatte man mir vielleicht schon vorgestern aufgeschlitzt, im Krankenhaus war ich vorgestern gewesen. Gestern war, schien mir, ein ganz anderer Tag. Aber was für einer? Was war passiert? Ich hatte nicht die geringste Ahnung. Gestern war ein vager Klumpen Zeit. Rund wie eine ins gigantische aufgedunsene Zwiebel, die Wasser gezogen hat. Was wo war, was sich hier tat, wenn man dort drückte, nichts, nichts war klar.
Ich näherte mich den Dingen und entfernte mich wieder, wie auf einem Karussell. Wann hatten die beiden mir den Bauch aufgeschlitzt, wann war das gewesen? Ich hatte im Morgengrauen an der Kaffeebar im Supermarkt gesessen. War das davor oder danach? Wann hatte ich gepinkelt? Und: Warum beschäftigte mich diese Frage so?
»Da ist es!«, sagte sie, drehte sich zu mir um und packte mich am Ellbogen. »Die Kanalisation! Der Ausgang!«
Ich wischte meine Pinkelgedanken beiseite und starrte auf die Stelle in der Wand, die sie mit der Taschenlampe anstrahlte. Ein Loch, viereckig wie eine Schuttrutsche, gerade groß genug, dass sich eine Person hindurchzwängen konnte.
»Mit Kanalisation hat das aber nicht viel zu tun«, sagte ich.
»Die ist dahinter. Das Loch hier führt hin. Riech doch mal! Abwasser!«
Ich steckte den Kopf in das Loch und schnüffelte. Der altvertraute Geruch von Abwasser, zweifellos. Nach dem Irrgang durch das unterirdische Labyrinth rührte mich selbst dieser Gestank. Es wehte außerdem Luft heraus, eindeutig. Dann erzitterte der Boden, und ich hörte, wie weit hinten die U-Bahn über die Gleise rauschte. Das Rauschen hielt zehn, fünfzehn Sekunden an, bis es verebbte wie ein Wasserhahn, der langsam zugedreht wird. Kein Zweifel. Hier war der Ausgang.
»Wir haben’s geschafft, endlich«, sagte sie und gab mir einen Kuss auf den Nacken. »Wie fühlst du dich?«
»Frag lieber nicht«, sagte ich. »Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht.«
Sie kroch zuerst in das Loch, kopfüber. Nachdem ihr weicher Hintern darin verschwunden war, kroch ich nach. In der engen Röhre ging es geradeaus. Meine Taschenlampe beleuchtete den Hintern und die Waden der Frau. Die Waden erinnerten mich an weiß-glattes chinesisches Gemüse. Ihr Rock war pitschnass; er klebte und hing an ihren Schenkeln wie ein Haufen Straßengören.
»Bist du noch da?«, schrie sie.
»Ja«, schrie ich zurück.
»Hier liegt ein Schuh!«
»Was für ein Schuh?«
»Ein schwarzer Herrenschuh, Leder.«
Bald sah ich ihn auch. Es war ein alter Schuh, der Absatz schief gelaufen. Der Dreck an der Spitze war hart und weiß geworden.
»Wieso liegt denn hier ein Schuh rum?«
»Warum wohl? Den wird einer verloren haben, als er von den Schwärzlingen geschnappt wurde.«
»Was du nicht sagst!«, sagte ich.
Da es nichts anderes zu sehen gab, schaute ich beim Kriechen auf ihren Rock. Ab und zu rutschte er weit über die Schenkel, dann war sauberes, weißes, fülliges Fleisch zu sehen. Ungefähr dort, wo die Frauen früher ihre Nylons an den Strapsen befestigten. Früher, bevor man die Strumpfhose erfand, gab es zwischen Strümpfen und Strumpfhalter ein Stück entblößte Haut.
Auf diese Weise entlockte mir ihre weiße Haut Erinnerungen an alte Zeiten. An die von Jimi Hendrix und den Cream, die von Otis Redding und den Beatles. Ich pfiff den Anfang von Peter and Gordons I go to pieces. Ein schönes Lied. Herz und Schmerz. Tausendmal besser als Duran Duran. Aber vielleicht empfand ich das auch nur, weil ich alt geworden war. I go to pieces war vor über zwanzig Jahren aktuell gewesen. Wer konnte denn damals schon den Advent der Strumpfhose vorhersehen?
»Warum pfeifst du denn?«, schrie sie.
»Ich weiß nicht. Einfach so«, antwortete ich.
»Was ist das für ein Lied?«
Ich nannte ihr den Titel.
»Kenn ich nicht.«
»Klar. Das war ein Hit, bevor du auf die Welt gekommen bist.«
»Worum geht’s denn dabei?«
»Um einen Menschen, der in Stücke zerbricht.«
»Warum pfeifst du denn so was?«
Ich überlegte eine Weile, aber ein besonderer Grund fiel mir nicht ein. Das Lied war mir einfach in den Sinn gekommen. »Ich weiß es nicht«, sagte ich.
Während ich noch nach einer anderen Melodie suchte, erreichten wir die Kanalisation. Eigentlich war es nur eine dicke
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