Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
Betonröhre von etwa anderthalb Metern Durchmesser, die zwei Zentimeter hoch Wasser führte. Entlang des Rinnsals war sie von schleimigem, moosartigem Zeug bewachsen. Weiter vorn rauschte die x-te Bahn vorbei. Das Rauschen war jetzt ganz deutlich, fast schon Lärm, und man sah sogar schwachen gelben Lichtschein.
»Warum führt die Kanalisation eigentlich zu den Gleisen?«, fragte ich.
»Genau genommen ist das keine Kanalisation«, sagte sie. »Hier wird nur Grundwasser abgeschöpft und in die U-Bahn-Gräben geleitet. Es ist aber schmutzig, weil Abwasser mit einsickert. Wie spät ist es jetzt?«
»9 Uhr 23«, sagte ich.
Sie zog das Signalgerät aus dem Rock und tauschte es gegen das, das in Betrieb gewesen war.
»Nur noch ein kleines Stück. Aber nicht übermütig werden, hörst du? Die Schwärzlinge beherrschen auch die U-Bahn-Anlagen. Du hast den Schuh gesehen, ja?«
»Hab ich«, sagte ich.
»Ernüchternd, oder?«
»Ziemlich.«
Wir marschierten in der Betonröhre weiter, am Wasser entlang. Das Schmatzen unserer wassertretenden Gummisohlen hallte von den hohlen Wänden, überlagert vom Brausen herannahender und sich entfernender Züge. So glücklich hatte mich die U-Bahn noch nie gemacht. Es hallte und brauste wie das Leben selbst, erfüllt von glitzerndem Licht. Alle möglichen Leute fuhren mit, jeder seinem Ziel entgegen, die Zeitung lesend, in Illustrierten blätternd. Ich erinnerte mich an die bunten Werbeplakate, die in den Abteilen von der Decke hängen, und an die Netzpläne über den Türen. Die Ginza-Linie wird auf den Plänen immer gelb dargestellt. Warum, weiß ich nicht, jedenfalls gelb. Bei der Ginza-Linie fällt mir deshalb immer Gelb ein.
Bis zum Ausgang war es gar nicht so weit. Er war vergittert, aber das Metall war beschädigt, sodass gerade eine Person hindurchpasste. Der Beton der Röhre war ausgehöhlt, alle Eisenstreben herausgezogen. Ohne Frage das Werk der Schwärzlinge, doch diesmal war ich ihnen ausnahmsweise einmal dankbar. Wäre das Gitter intakt gewesen, wären wir, die Welt direkt vor unseren Augen, keinen Schritt mehr weitergekommen.
Vor dem runden Ausgang war eine Ampel zu sehen und ein viereckiger Holzkasten, für Werkzeug vielleicht. Zwischen den Gleisen reihten sich in gleichmäßigen Abständen schwarz verfärbte Betonpfeiler. Die dort angebrachten Lampen tauchten den Tunnel in trübes Licht, das mir gleichwohl überaus grell in die Augen stach. Ich war zu lange unter der Erde gewesen, meine Augen hatten sich ganz auf die Dunkelheit eingestellt.
»Wir warten hier ein bisschen, bis sich die Augen an das Licht gewöhnt haben«, sagte das Mädchen. »Zehn, fünfzehn Minuten müssten für das schwache Licht hier genügen. Dann gehen wir wieder ein Stück und gewöhnen uns an das hellere Licht. Sonst laufen wir Gefahr, geblendet zu werden und gar nichts mehr sehen zu können. Bis dahin nicht in die vorbeifahrenden Züge schauen! Verstanden?«
»Verstanden«, sagte ich.
Sie nahm mich am Arm und führte mich zu einer trockenen Stelle, wo wir uns hinhockten. Dann umfasste sie, als müsse sie mich stützen, mit beiden Händen meinen rechten Oberarm.
Ein Zug kam; wir senkten den Kopf und schlossen fest die Augen. Eine Zeit lang tanzte und flackerte es gelb vor den Lidern, bis mit dem ohrenbetäubenden Lärm auch das Licht wieder verschwand. Es war so grell, dass mir Tränen in die Augen traten und über die Wangen kullerten. Mit dem Hemdärmel wischte ich sie weg.
»Keine Sorge, das geht gleich vorbei«, sagte sie. Auch ihr liefen Tränen übers Gesicht. »Noch drei, vier Züge warten wir ab. Dann haben sich die Augen an das Licht gewöhnt, und wir können bis kurz vor die Station laufen. Bis dorthin wagen sich die Schwärzlinge nicht vor. Und wir können ins Freie.«
»Ich habe das Gefühl, das schon einmal erlebt zu haben«, sagte ich.
»Was? Im U-Bahn-Tunnel zu laufen?«
»Nein, nicht das. Ich meine das Licht. Dass Licht mich so blendet, dass ich weinen muss.«
»Das hat jeder schon mal erlebt.«
»Nein, nein, nicht so. Mit besonderen Augen, mit besonderem Licht. Es war bitterkalt. Meine Augen waren über lange Zeit an Dämmer gewöhnt, wie jetzt, vertrugen kein Licht. Es waren ganz besondere Augen.«
»Kannst du dich noch an mehr erinnern?«
»Nein, nur an das. Das ist alles.«
»Das sind bestimmt gegenläufige Erinnerungen«, sagte sie.
Sie hatte sich an mich gelehnt, sodass ich am Arm die Wölbung ihres Busens spürte. Die pitschnasse Hose hatte meinen ganzen
Weitere Kostenlose Bücher