Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
paar Mal, dann erlosch er. Die Welt hatte ihre perfekte Dunkelheit wieder. Eine Welt ohne Entfernungen, ohne Dicke, ohne Tiefe, eine Welt des Nichts.
»Gehn wir«, sagte das Mädchen. Ich ließ meine Armbanduhr aufblinken. 7 Uhr 18. Die Zeit, in der auf allen Kanälen die Morgennachrichten laufen. Die Leute oben frühstückten und stopften sich noch halb schlafend mit Informationen voll, mit dem Wetterbericht und mit Werbung für Kopfschmerzmittel und dem Stand der Dinge in der prekären Frage des Automobilexportes in die Vereinigten Staaten. Dass ich eine ganze Nacht in diesem unterirdischen Labyrinth umhergeirrt war, wusste niemand. Dass ich hatte schwimmen müssen, dass Blutegel an mir gesaugt hatten, dass mein Bauch schmerzte, davon wusste niemand. Und niemand wusste, dass in 28 Stunden und 42 Minuten meine Welt ablaufen würde. Solche Nachrichten bringt das Fernsehen nicht.
Der Durchgang war der bei weitem engste bisher, wir mussten praktisch kriechen. Zudem schlängelte sich der Weg wie Gedärm, nach links und rechts, bergab, bergauf. Mal ging es abwärts wie in einem Schacht, dann mussten wir wieder klettern. Der Tunnel beschrieb Loopings wie eine Achterbahn. Es ging nur sehr langsam und mühsam voran. Er war offenbar durch natürliche Erosion entstanden, die Schwärzlinge hatten ihn nicht gegraben. Einen so beschwerlichen Durchgang würden nicht einmal die anlegen.
Nach einer halben Stunde wechselten wir die Signalgeräte, nach weiteren zehn Minuten war der enge Schlängelpfad zu Ende, und wir traten plötzlich auf einen weiten Platz mit hoher Decke. Dort war es still und dunkel wie in der Eingangshalle eines alten Gebäudes, es roch nach Moder. T-förmig führte der Durchgang nach rechts und links weiter; von rechts kam ein leichter Windhauch. Das Mädchen leuchtete mit der großen Handlampe in die Seitenarme. Beide zogen sich kerzengerade in die Dunkelheit.
»Welchen nehmen wir?«, fragte ich.
»Den rechten«, sagte sie. »Das ist die grobe Richtung, außerdem kommt von da der Wind. Wir sind hier ungefähr unter Sendagaya, wie Großvater gesagt hat, nach rechts geht’s zum Jingu-Baseballstadion.«
Ich versuchte, mir die Welt über uns ins Gedächtnis zu rufen. Wenn sie Recht hatte, standen wir unter zwei Nudelsuppenrestaurants, unter dem Verlag Kawade und den Victor Studios. Und ganz in der Nähe befand sich auch mein Friseur. Ich frequentierte ihn schon seit über zehn Jahren.
»Hier in der Nähe liegt mein Stammfriseur«, sagte ich.
»Ach ja?« Das Mädchen zeigte wenig Interesse.
Es wäre, schien mir, keine schlechte Idee, noch einmal zum Friseur zu gehen und mir die Haare schneiden zu lassen, bevor die Welt unterging. Was konnte man in 24 Stunden schon noch groß bewerkstelligen? Schön baden, frische Sachen anziehen und zum Friseur gehen, das wäre schon was.
»Sei vorsichtig«, sagte das Mädchen. »Wir sind bald am Nest der Schwärzlinge. Man riecht sie schon. Hörst du die Stimmen? Bleib dicht hinter mir.«
Ich spitzte die Ohren und schnupperte, roch und hörte aber nichts. Keine Stimmen jedenfalls, nur merkwürdigen Schall.
»Ob die wissen, dass wir in der Nähe sind?«
»Natürlich«, sagte das Mädchen. »Das ist ihr Reich. Hier entgeht denen nichts. Außerdem sind sie wütend. Wütend, dass wir uns ihrem Nest nähern, durch ihr Sanktuarium hindurch. Wenn sie uns schnappen, drehen sie uns durch die Mangel. Bleib also dicht hinter mir. Sonst greifen sie dich aus dem Dunkel heraus und schleppen dich irgendwo hin.«
Wir kürzten das Seil, das uns verband, auf zirka fünfzig Zentimeter.
»Pass auf! Hier ist keine Wand mehr!«, sagte sie scharf und strahlte nach links. Tatsächlich verschwand die Wand, von einem Augenblick zum nächsten, wie sie gesagt hatte. Stattdessen gähnte dort ein Loch dichter Schwärze. Wie ein Pfeil durchdrang es der Lichtstrahl in einer geraden Linie, nur um weiter vorn von noch dichterer Finsternis verschluckt zu werden. Es war, als ob die Dunkelheit lebte, als ob sie atmete, sich wand. Eine Dunkelheit wie Gelee, wabbelig, unheimlich.
»Hörst du?«, fragte sie.
»Ja«, sagte ich. Jetzt konnte auch ich die Stimmen der Schwärzlinge klar vernehmen. Allerdings handelte es sich genau gesagt eher um ein Rauschen, wie bei Ohrensausen. Es durchschnitt die Dunkelheit und drang mit der Schärfe eines Sägeblattes ins Ohr, ein Gebrumm wie von unzähligen geflügelten Insekten. Es hallte von allen Wänden wider und riss und zerrte am Trommelfell. Ich war nahe
Weitere Kostenlose Bücher