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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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die Stille hatte uns wieder. Irgendwo schlugen Wassertropfen auf, es hallte schwach und hohl.
    »Was zum Teufel hassen die denn so?«, fragte ich meine Gefährtin.
    »Die Welt des Lichts und ihre Bewohner«, sagte sie.
    »Ich kann einfach nicht glauben, dass die Semioten sich mit denen eingelassen haben. Welcher Preis auch immer gewunken haben mag.«
    Sie sagte nichts dazu. Stattdessen drückte sie noch einmal fest meine Hand. »Weißt du, was ich diesmal gedacht habe?«
    »Keine Ahnung«, sagte ich.
    »Wie schön es wäre, wenn ich mit in die Welt könnte, in die du bald gehst.«
    »Du würdest diese Welt hier aufgeben?«
    »Klar«, sagte sie. »Die ist doch langweilig! In deinem Kopf zu leben stell ich mir viel spannender vor!«
    Ich sagte nichts, schüttelte nur den Kopf. Ich wollte nicht in meinem Kopf leben. Ich wollte in niemandes Kopf leben.
    »Lass uns jedenfalls erst mal weitergehen«, sagte sie. »Hier können wir nicht ewig bleiben. Wir müssen den Weg zur Kanalisation suchen, zum Ausgang. Wie spät haben wir denn?«
    Ich drückte auf die Leuchtanzeige meiner Armbanduhr. Meine Finger zitterten immer noch ein bisschen. Und so schnell würden sie damit wohl nicht aufhören.
    »Zwanzig nach acht«, sagte ich.
    »Ich wechsle die Geräte«, sagte die Kleine, schaltete das neue ein und klemmte sich das alte, nachdem sie es auf Aufladen gestellt hatte, problemlos zwischen Hemd und Rock. Es war also genau eine Stunde vergangen, seit wir die Höhle betreten hatten. Wenn der Professor Recht hatte, musste bald eine Biegung nach links kommen, Richtung Allee des Kunstforums. Von dort konnte es bis zu den Gleisen der U-Bahn nur noch ein Katzensprung sein. Und die U-Bahn war immerhin die Verlängerung der überirdischen Kultur. Von dort würden wir irgendwie dem Reich der Schwärzlinge entfliehen können.
    Kurze Zeit später bog der Weg wie erwartet im rechten Winkel nach links. Höchstwahrscheinlich befanden wir uns unter der Ginkgo-Allee. Es war Anfang Herbst, die Blätter vermutlich noch saftig grün. Ich rief mir das warme Sonnenlicht, den Geruch von Gras und den frühen Herbstwind ins Gedächtnis. Dort oben hätte ich mich stundenlang hinlegen mögen und den Himmel anschauen. Zum Friseur, dann zu Fuß zum Park, ins Gras legen und den Himmel anschauen. Dazu ein schönes kaltes Bier. Vor dem Weltuntergang.
    »Ob draußen schönes Wetter ist?«, fragte ich die Kleine, die voranging.
    »Wer weiß? Ich habe keine Ahnung. Woher auch?«, sagte sie.
    »Hast du nicht den Wetterbericht gesehen?«
    »Nein. Ich bin den ganzen Tag rumgeirrt, um deine Wohnung zu finden.«
    Ich versuchte mich zu erinnern, ob gestern Nacht, als ich das Haus verließ, die Sterne geleuchtet hatten. Vergeblich. Alles, was mir einfiel, war das junge Pärchen, das in seinem Nissan Skyline Duran Duran gehört hatte. Auf die Sterne konnte ich mich einfach nicht besinnen. Genau genommen hatte ich sie schon monatelang nicht mehr betrachtet. Wenn sie vor drei Monaten allesamt vom Himmel gefegt worden wären: Es wäre mir nicht im Mindesten aufgefallen. Was ich gesehen hatte, woran ich mich erinnern konnte, das waren die Silberkettchen am Handgelenk der Frau und die Eiskremstielchen im Topf des Gummibaumes, solches Zeug, sonst nichts. So gesehen hatte ich ein völlig ungenügendes, ganz unangemessenes Leben geführt. Wenn ich, schoss es mir durch den Kopf, als jugoslawischer Schäfer geboren worden wäre, hätte ich jede Nacht den Großen Bären anschauen können. Der Skyline, Duran Duran, die Silberkettchen, das Shuffling, der dunkelblaue Tweed-Anzug, das alles kam mir vor wie ein in ferner Vergangenheit geträumter Traum. Alle Erinnerung war merkwürdig platt, wie ein Automobil, das in der Hochdruckpresse zu einer bloßen Metallscheibe zerquetscht wird, platt – bei erhaltener Komplexität – wie eine Kreditkarte. Von vorne gesehen nur ein kleines bisschen unnatürlich, von der Seite jedoch nichts als ein Strich, beinahe ohne jeden Sinn. Die Karte enthielt mich, alles, ohne Frage, aber war doch nichts als eine Plastikscheibe. Solange man sie nicht in den Schlitz des dafür gebauten Lesegerätes steckte, hatte sie keinerlei Sinn.
    Wahrscheinlich wurde der erste Schaltkreis schwächer. Deshalb wirkten meine tatsächlichen Erinnerungen so platt, als gehörten sie zu jemand anders. Mein Kopf stand im Begriff, sich von mir zu entfernen. Die Karte meiner Identität würde immer dünner werden, dünn wie Papier, und dann ganz verschwinden.
    Während ich

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