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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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daran, die Taschenlampe wegzuwerfen, mich hinzuhocken und mir die Ohren zuzuhalten. Mir war, als raspelten an jedem einzelnen meiner Nerven tausend Feilen aus Hass.
    Dieser Hass war anders als jeder Hass, den ich kannte. Er brauste heran wie ein Sturm aus der Hölle, versuchte, uns in Stücke zu reißen. Auf uns lastete ein gigantischer Block aus schwarzen Gedanken, schwarz wie das Kondensat der gesamten unterirdischen Finsternis und der in dieser licht- und augenlosen Welt verschmutzten und verzerrten Zeit. Dass Hass so schwer sein kann, hatte ich nicht gewusst.
    »Nicht stehen bleiben!«, schrie das Mädchen nah an meinem Ohr. Ihre Stimme war trocken und dürr, doch sie zitterte nicht. Erst als sie mich anschrie, wurde mir bewusst, dass ich stehen geblieben war.
    Sie riss an dem Seil, das uns verband. »Nicht stehen bleiben! Wenn du stehen bleibst, ist es aus! Die ziehen dich weg in die Finsternis!«
    Doch ich vermochte mich nicht zu rühren. Der Hass der Schwärzlinge fesselte mich an die Stelle, wo ich stand. Die Zeit schien rückwärts zu fließen, zurück zur Erinnerung an unsägliche, urvergangene Zeiten. Ich konnte nirgendwo mehr hin.
    Sie gab mir eine schallende Ohrfeige. Sie schlug so fest zu, dass ich einen Moment nichts mehr hörte.
    »Rechts!«, hörte ich sie schreien. »Rechts! Verstehst du! Das rechte Bein vor! Rechts, sag ich, bist du blöd?«
    Schließlich schaffte ich es, schwerfällig das rechte Bein vorzusetzen. Ich meinte, in den Stimmen der Schwärzlinge eine kleine Enttäuschung zu vernehmen.
    »Links!«, schrie sie. Ich setzte den linken Fuß vor.
    »So ist’s recht. Einen Fuß vor den andern. Alles in Ordnung?«
    Alles in Ordnung, sagte ich, wusste aber nicht, ob ich es wirklich artikuliert hatte. Alles, was ich wusste, war, dass die Schwärzlinge – wie das Mädchen gesagt hatte – versuchten, uns in das dichte Dunkel zu ziehen. Sie tröpfelten uns Angst ein, erst in die Ohren, lähmten uns, um uns dann langsam hinüberzuholen.
    Nachdem ich mich wieder bewegen konnte, verspürte ich umgekehrt den Impuls loszurennen. Ich wollte weg von diesem unsäglichen Ort, je schneller, desto besser.
    Doch das Mädchen, als hätte es meine Gedanken gelesen, streckte den Arm aus und fasste mich am Handgelenk. »Leuchte auf die Füße«, sagte sie. »Den Rücken zur Wand, dann Schritt für Schritt zur Seite. Verstanden?«
    »Verstanden«, sagte ich.
    »Auf keinen Fall das Licht nach oben richten!«
    »Warum nicht?«
    »Weil da Schwärzlinge sind. Direkt über uns«, flüsterte sie. »Du darfst sie auf keinen Fall anschauen. Sonst kommst du keinen Schritt mehr weiter!«
    Wir leuchteten sorgfältig den Boden aus und bewegten uns schrittweise zur Seite. Hin und wieder streifte ein kalter, ekelhafter, nach totem Fisch stinkender Hauch meine Wange; jedes Mal stockte mir der Atem. Mir war, als wäre ich im überbordenden, madenzerfressenen Gedärm eines Riesenfisches eingeschlossen. Die Schwärzlinge erhoben noch immer ihre Stimmen. Unangenehme Stimmen, wie mit Gewalt aus tonlosen Räumen gequetscht. Meine Trommelfelle verzogen und versteiften sich, im Mund sammelte sich fauliger Speichel.
    Und doch bewegte ich mich automatisch zur Seite. Ich konzentrierte mich nur darauf, abwechselnd das linke und das rechte Bein zu bewegen.
    Das Mädchen sagte ab und zu etwas, aber ich konnte es nicht richtig verstehen. Diese Stimmen, dachte ich, würde ich zeit meines Lebens nicht aus dem Gedächtnis bannen können. Irgendwann würden sie mich aus tiefem Dunkel heraus wieder anfallen. Und irgendwann würden mich schleimige Schwärzlingpfoten an den Boden fesseln.
    Wie viel Zeit vergangen war, seit wir in diese albtraumhafte Welt eingedrungen waren, wusste ich nicht mehr. Das Signalgerät, das das Mädchen in der Hand hielt, zeigte noch grünes Licht, es arbeitete also noch, viel Zeit konnte demnach nicht vergangen sein. Mir kam es wie Stunden vor.
    Irgendwann jedoch veränderte sich schlagartig die Atmosphäre. Der Fäulnisgeruch wurde dünner, der Druck auf den Ohren verebbte, der Widerhall der Töne veränderte sich. Die Stimmen der Schwärzlinge waren nur noch wie fernes Meeresrauschen zu vernehmen. Das Schlimmste hatten wir hinter uns. Das Mädchen richtete ihre Taschenlampe nach oben; der Lichtstrahl zeigte wieder Felsen. Wir lehnten uns an die Wand, holten tief Luft und wischten uns den kalten Schweiß aus dem Gesicht.
    Lange Zeit sagten wir nichts. Schließlich verschwanden auch die fernen Stimmen der Schwärzlinge,

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