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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Körper unterkühlt, nur dort, wo ihr Busen mich berührte, war es warm.
    »Hast du etwas Bestimmtes vor, wenn wir draußen sind? Möchtest du irgendwo hin, etwas Besonderes tun, jemanden treffen?«, fragte sie und linste dabei auf meine Uhr. »Es sind noch fünfundzwanzig Stunden und fünfzig Minuten.«
    »Ich will nach Hause, baden. Und mich umziehen. Danach vielleicht zum Friseur«, sagte ich.
    »Dann hast du immer noch Zeit.«
    »Alles Weitere überleg ich, wenn es so weit ist.«
    »Darf ich mitgehen?«, fragte sie. »Ich würde auch gern baden und mich umziehen.«
    »Meinetwegen«, sagte ich.
    Da die zweite Bahn herannahte, aus Richtung Aoyama Itchome, senkten wir wieder den Kopf und schlossen die Augen. Das Licht blendete immer noch, doch die Augen tränten nicht mehr so stark.
    Meine Gefährtin leuchtete mich mit der Taschenlampe an: »Deine Haare sind gar nicht so lang, dass du zum Friseur müsstest. Lange Haare würden dir bestimmt gut stehen.«
    »Von langen Haaren habe ich die Nase voll.«
    »Jedenfalls brauchst du noch nicht zum Friseur. Wann warst du denn das letzte Mal?«
    »Keine Ahnung«, sagte ich. Ich wusste es einfach nicht mehr. Kein Wunder, wenn ich mich nicht mal mehr daran erinnern konnte, wann ich das letzte Mal gepinkelt hatte. Alles, was Wochen zurücklag, war für mich Steinzeit.
    »Hast du zu Hause was zum Anziehen für mich, in meiner Größe?«
    »Ich weiß nicht, glaub eher nicht.«
    »Macht nichts, wird schon irgendwie gehen«, sagte sie. »Brauchst du das Bett?«
    »Das Bett?«
    »Um mit jemand zu schlafen, einem Callgirl zum Beispiel.«
    »An so was hatte ich nicht gerade gedacht«, sagte ich. »Nein, ich glaub nicht, dass ich es brauche.«
    »Darf ich dann drin schlafen? Bevor ich wieder zu Großvater gehe, würde ich mich gern ein bisschen ausruhen.«
    »Meinetwegen. Aber es könnte sein, dass die Semioten bei mir auftauchen oder die vom System. In der letzten Zeit bin ich ziemlich beliebt. Und die Tür steht offen.«
    »Das macht mir nichts aus«, sagte sie.
    Wahrscheinlich macht es ihr tatsächlich nichts aus, dachte ich. Dem einen macht dies nichts aus, dem anderen jenes.
    Aus Richtung Shibuya rauschte die dritte Bahn vorbei. Ich schloss die Augen und zählte. Bei 14 waren die Schlusslichter weg. Die Augen schmerzten fast gar nicht mehr. Die erste Stufe hatten wir hinter uns. Die Schwärzlinge würden mich nicht mehr kriegen, in keinen Brunnen hängen, und der Riesenfisch würde mich nicht zerfleischen.
    »Gut«, sagte sie und ließ meinen Arm los. »Gehn wir!«
    Ich nickte, erhob mich auch und folgte ihr auf die Gleise. Dann liefen wir los, Richtung Aoyama Itchome.

30  DAS ENDE DER WELT
LÖCHER
    Am nächsten Morgen wache ich auf, und die ganze Geschichte im Wald kommt mir vor, als wäre sie meinen Träumen entsprungen. Aber es kann kein Traum gewesen sein. Auf dem Tisch liegt die alte Ziehharmonika, klein und zusammengerollt wie ein schwaches Tierjunges. Es ist alles wahr, wirklich passiert: der Ventilator, der von Wind aus den Tiefen der Erde angetrieben wird, der junge Verwalter mit dem unglücklichen Gesicht und der Sammlung von Musikinstrumenten.
    Abgesehen davon geistert ein seltsam irreales Geräusch in meinem Kopf herum, die ganze Zeit schon. Als würde ständig irgendetwas hineingerammt. Pausenlos sticht und schiebt sich ein flaches Ding in meinen Kopf. Weh tut es nicht, mein Kopf ist sogar selten klar, bis auf dieses irreale Geräusch eben.
    Vom Bett aus sehe ich mich im Zimmer um, doch nichts hat sich verändert, nicht das Geringste. Die Decke, die vier Wände, die durchgetretenen Dielen, die Vorhänge vor dem Fenster – alles ist wie immer. Auf dem Tisch liegt die Ziehharmonika. An der Wand hängen mein Mantel und der Schal. In den Manteltaschen stecken die Handschuhe.
    Ich recke und strecke meine Glieder, eines nach dem anderen. Alles funktioniert tadellos. Die Augen tun mir auch nicht weh. Alles völlig normal.
    Trotzdem, das flache Geräusch schiebt immer noch in meinem Kopf herum, unregelmäßig und konzentriert.Viele gleichartige, übereinander liegende Töne. Ich versuche herauszufinden, woher sie kommen, doch ich kann die Ohren spitzen, wie ich will, eine Richtung vermag ich nicht zu bestimmen. Die Töne scheinen meinem Kopf zu entspringen.
    Vorsichtshalber stehe ich aber auf und schaue aus dem Fenster. Da endlich kann ich das Geräusch zuordnen: Es stammt von Spaten, die in die hart gefrorene Erde gestochen werden, denn auf dem freien Platz direkt unter

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