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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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geschlossen, fühlte ich, wie der Schlaf mich ins Reich der Dunkelheit ziehen wollte. Wie die Schwärzlinge reckte und streckte er aus der Tiefe des Dunkels seine Arme nach mir aus.
    Ich machte die Augen auf und rieb mir übers Gesicht. Nach dem Waschen und der Rasur, ich hatte es lange nicht getan, war die Haut trocken und spannte wie das Fell einer Trommel. Das Gesicht, das ich rieb, schien gar nicht das meine zu sein. Die Stellen, wo die Egel gesessen hatten, brannten. Die zwei Viecher hatten mir offenbar allerhand Blut abgezapft.
    »Du«, sagte das Mädchen und legte das Buch zur Seite. »Das mit dem Samen. Möchtest du wirklich nicht, dass ich ihn schlucke?«
    »Nicht jetzt«, sagte ich.
    »Du bist nicht in der Stimmung?«
    »Nein.«
    »Du willst auch nicht mit mir schlafen?«
    »Nicht jetzt.«
    »Weil ich dick bin, nicht wahr?«
    »Das hat damit nichts zu tun«, sagte ich. »Du bist wirklich schön.«
    »Warum schläfst du dann nicht mit mir?«
    »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Warum, weiß ich nicht, aber ich habe das Gefühl, jetzt nicht mit dir schlafen zu dürfen.«
    »Aus moralischen Gründen? Weil es deiner Auffassung von Moral widerspräche?«
    »Moral?«, wiederholte ich. Das Wort klang seltsam. Ich schaute zur Decke und dachte eine Weile darüber nach. »Nein«, sagte ich dann, »Moral, nein. Es ist etwas anderes. Instinkt vielleicht, Intuition, so etwas. Vielleicht hat es auch mit gegenströmender Erinnerung zu tun. Ich kann es nicht gut erklären. Ich würde nichts lieber tun, als jetzt mit dir zu schlafen. Doch mein Instinkt, meine Intuition, dieses Etwas, was immer es ist, hält mich ab, sagt mir, jetzt sei nicht die Zeit dafür.«
    Sie stützte den Ellbogen aufs Kopfkissen und sah mir in die Augen: »Lügst du auch nicht?«
    »In solchen Sachen lüge ich nie.«
    »Und das geht dir wirklich im Kopf herum?«
    »Nein, ich spüre es.«
    »Kannst du das beweisen?«
    »Was beweisen?«, fragte ich verblüfft.
    »Beweisen, dass du mit mir schlafen möchtest.«
    »Ich habe eine Erektion«, sagte ich.
    »Zeig!«, sagte sie.
    Erst war ich unschlüssig, ließ dann aber doch die Hosen herunter. Ich war zu erschöpft, um mich länger mit ihr auseinander zu setzen, und lange würde ich eh nicht mehr in dieser Welt verweilen. Außerdem war kaum anzunehmen, dass es sich zu einem größeren gesellschaftlichen Skandal ausweiten würde, wenn ich einem siebzehnjährigen Mädchen einen gesunden, erigierten Penis vorzeigte.
    »Tatsächlich«, sagte das Mädchen, während es meinen angeschwollenen Penis betrachtete. »Darf ich mal anfassen?«
    »Nein!«, sagte ich. »Aber das ist Beweis genug, oder?«
    »Na ja, schon.«
    Ich zog die Hose wieder hoch und verstaute meinen Penis. Draußen brummte ein großer Lkw vorbei.
    »Wann gehst du zu deinem Großvater zurück?«, fragte ich.
    »Wenn ich ein bisschen geschlafen habe und die Sachen trocken sind«, sagte sie. »Gegen Abend wird auch das Wasser zurückgegangen sein, dann nehm ich wieder den Weg durch die U-Bahn.«
    »Bei dem Wetter werden deine Sachen erst morgen früh trocken sein.«
    »Meinst du?«, sagte sie. »Was mach ich denn da?«
    »In der Nachbarschaft gibt’s einen Waschsalon, da kannst du sie trocknen.«
    »Und wie soll ich ohne Kleider da hin?«
    Ich zerbrach mir den Kopf, aber mir fiel nichts Gescheites ein. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich selbst zum Waschsalon aufzumachen. Ich ging ins Bad und stopfte die Wäsche in eine Lufthansa-Plastiktasche. Dann suchte ich unter den restlichen Kleidungsstücken eine olivgrüne Baumwollhose und ein blaues Hemd mit Knopfkragen heraus und zog braune Freizeitschuhe an. So kam es, dass ich einen Teil der mir noch verbleibenden kostbaren Zeit ohne Sinn und Verstand auf einem elenden Rohrstühlchen zubringen musste, in einem Waschsalon. Die Uhr zeigte 12 Uhr 17.

32  DAS ENDE DER WELT
DER SCHATTEN AUF DEM TOTENBETT
    Ich schiebe das Tor zur Wachhütte auf. Der Wächter steht am Hintereingang und hackt Holz.
    »Sieht nach einer Menge Schnee aus«, sagt er mit dem Beil in der Hand. »Heute Morgen waren vier tot. Morgen werden es viel mehr sein. Dieses Jahr haben wir wirklich einen besonders kalten Winter.«
    Ich ziehe meine Handschuhe aus, stelle mich vor den Ofen und halte die Hände darüber. Der Wächter bündelt die dünn gespaltenen Scheite, stapelt das Brennholz unterm Dach und hängt das Beil an die Wand zurück. Dann tritt er an meine Seite, um sich ebenfalls die Hände zu wärmen.
    »Sieht außerdem so

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