Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
kalt.«
»Wenn es schneit, sterben viele Tiere«, sagt der Schatten. »Wenn viele Tiere sterben, hat der Wächter alle Hände voll zu tun. Und wir können ungestört von hier abhauen, während der Kerl im Apfelwäldchen Kadaver verbrennt. Du nimmst den Schlüsselbund von der Wand, schließt den Käfig auf, und wir fliehen.«
»Durch das Tor?«
»Nein, zu gefährlich. Das Tor ist von außen abgeschlossen, und selbst wenn wir hinauskämen – der Wächter würde uns im Nu wieder erwischen. Über die Mauer geht auch nicht, nur die Vögel können sie überwinden.«
»Ja, wo kommen wir denn dann raus?«
»Überlass das nur mir. Ich habe alles mehr als genau geplant, bis ins letzte Detail. Ich konnte nämlich eine Menge Informationen über die Stadt sammeln. Löcher hab ich in deine Karte gestarrt, so genau hab ich sie studiert, und aus dem Wächter hab ich auch einiges herausbekommen. Seit er glaubt, dass ich nicht mehr in der Lage bin zu fliehen, erzählt er mir schön freundlich alles über die Stadt, was ich wissen will. Du scheinst ihn gut eingeseift zu haben – der Kerl ist ganz schön unvorsichtig geworden. Na ja, hat zwar alles etwas länger gedauert, als ich mir vorgestellt hatte, aber jetzt steht der Plan. Alles läuft wie geschmiert. Der Wächter hat zwar Recht, wenn er sagt, dass ich nicht mehr genug Energie habe, um mich mit dir zusammenschweißen zu können, aber wenn wir erst hier raus sind, erhole ich mich, und dann werden wir wieder eins. Ich brauche hier nicht zu sterben, und du kriegst deine Erinnerung zurück und wirst wieder du selbst, wie früher.«
Ich sage nichts, starre nur in die Flamme der Kerze.
»Was hast du denn auf einmal?«, fragt der Schatten.
»Wie war ich denn früher? Ich selbst – wer ist das?«, sage ich.
»He, komm, jetzt hör schon auf, du hast doch wohl nicht etwa Zweifel?«, sagt der Schatten.
»Doch. Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll«, sage ich. »Ich erinnere mich doch gar nicht an mein früheres Ich! Lohnt es sich überhaupt, in die Welt da draußen zurückzukehren? Ist der Mensch, der ich früher war, es wert?«
Der Schatten will etwas sagen, aber ich hebe die Hand und komme ihm zuvor. »Warte, lass mich ausreden. Ich hab zwar vergessen, was ich früher für ein Mensch war, aber mein jetziges Ich beginnt, so was wie Zuneigung für die Stadt hier zu empfinden. Ich fühle mich von der Bibliothekarin angezogen, und auch der Oberst ist ein guter Mensch. Ich liebe es, den Tieren zuzuschauen. Der Winter ist hart hier, aber die anderen Jahreszeiten sind dafür wunderschön. Hier tut keiner dem anderen weh, man kämpft nicht gegeneinander. Das Leben ist einfach, aber erfüllt, und alle sind gleich. Es gibt niemanden, der schlecht über einen redet, und niemanden, der anderen etwas wegnimmt. Man arbeitet, aber alle haben Freude dabei. Es ist Arbeit um der Arbeit willen, reine Arbeit. Niemand zwingt einen dazu, und man macht sie nicht widerwillig. Man beneidet die anderen auch nicht, niemand jammert und niemand leidet.«
»Und es gibt weder Geld noch Vermögen, weder Stand noch Rang. Es gibt keine Gerichte und auch keine Krankenhäuser«, stimmt der Schatten ein. »Man wird nicht älter, nicht wahr, und nicht von Todesängsten geplagt. Stimmt’s?«
Ich nicke. »Und jetzt nenne du mir einen einzigen Grund, warum ich diese Stadt verlassen sollte!«
»Tja«, sagt der Schatten, zieht eine Hand unter der Decke hervor und streicht sich mit dem Finger über seine trockenen Lippen. »Was du sagst, klingt auf den ersten Blick vernünftig. Eine solche Welt wäre das wahrhaftige Utopia, und ich hätte dem nichts entgegenzusetzen – wenn es sie denn geben würde. Du könntest von mir aus machen, was du willst. Ich würde alles einsehen und hier sterben. Aber du übersiehst ein paar Dinge. Und zwar ein paar ganz wichtige.«
Der Schatten bekommt einen Hustenanfall. Ich warte, bis er weiterreden kann.
»Als du das letzte Mal hier warst, sagte ich dir, dass mit dieser Stadt etwas nicht stimmt, dass sie unnatürlich ist. Und ich sagte, dass sie in dieser Verkehrtheit und Unnatürlichkeit vollkommen ist. Nun, du hast gerade über die vollkommene, die perfekte Seite gesprochen. Deshalb lass mich jetzt über die unnatürliche und verkehrte reden. Also, hör gut zu. Erstens, und das ist das Wichtigste, meine Hauptthese: Es gibt keine Vollkommenheit auf dieser Welt. Genauso wie es – und ich wiederhole mich schon wieder – ein Perpetuum mobile prinzipiell nicht geben kann. Die
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