Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
aus, als müsste ich die Tierkadaver die nächste Zeit alleine verbrennen. Dein Schatten war mir eine große Hilfe, wirklich, aber da kann man nichts machen. Ist ja eigentlich auch meine Arbeit.«
»Geht es ihm sehr schlecht?«
»Nun ja, gut geht’s ihm nicht gerade«, sagt der Wächter und wackelt mit seinem riesigen Kopf. »Nein, gut nicht. Er liegt schon drei Tage im Bett. Tja, ich werde nach ihm sehen, so gut es geht, aber ich kann ihn nicht am Leben erhalten, wenn er sterben muss. Der Mensch hat seine Grenzen.«
»Kann ich zu ihm?«
»Ja, sicher, natürlich. Aber nur dreißig Minuten. Ich muss nämlich in ungefähr einer halben Stunde weg, um die Tiere zu verbrennen.«
Ich nicke.
Der Wächter nimmt den Schlüsselbund von der Wand und öffnet damit das Eisentor zum Schattenfeld. Er geht voran, überquert schnellen Schrittes den Platz, öffnet die Tür zur Hütte und lässt mich eintreten. Innen ist es vollkommen leer, nicht ein einziges Möbelstück; der Fußboden besteht aus blanken, kalten Ziegeln. Durch die Fenster pfeift der eisige Wind herein, die Luft scheint jeden Moment zu gefrieren. Wie in einem Eisschrank!
»Nicht meine Schuld«, verteidigt sich der Wächter. »Ich habe deinen Schatten nicht aus Spaß an der Freud hier hineingesteckt. Das ist Vorschrift, Schatten haben in dieser Hütte zu wohnen, ich führe nur Befehle aus. Deiner hat außerdem noch Glück gehabt! In schlechten Zeiten muss ich hier zwei oder drei auf einmal unterbringen – hat’s alles schon gegeben!«
Was soll ich dazu sagen? Bringt sowieso nichts mehr, also schweige ich und nicke nur. Aber ich hätte meinen Schatten nie und nimmer in diesem Verlies zurücklassen sollen.
»Dein Schatten ist unten«, sagt er. »Da ist es etwas wärmer. Aber es stinkt ein bisschen. – Komm.«
Der Wächter geht in eine Ecke des Raumes und zieht eine vor Feuchtigkeit ganz dunkle Holzluke im Boden auf. Darunter befindet sich nicht etwa eine Treppe – nur eine einfache Leiter. Er steigt ein paar Sprossen hinab und winkt mir zu, ich solle nachkommen. Ich klopfe mir den Schnee vom Mantel und folge ihm.
Sofort steigt mir der bestialische Gestank von Kot und Urin in die Nase. Unten gibt es keine Fenster, die verpestete Luft kann also nicht abziehen. Der Kellerraum hat die Größe einer Abstellkammer, das Bett allein nimmt schon ein Drittel des Platzes ein. Auf dem Bett liegt mein völlig abgemagerter Schatten, auf der Seite, das Gesicht zur Luke gewandt. Unterm Bett steht ein Nachttopf aus Porzellan. Außerdem gibt es noch einen altersschwachen, halb kaputten Tisch, auf dem eine alte Kerze brennt – sonst sehe ich nichts, was Licht oder Wärme spenden könnte. Der Fußboden besteht einfach aus festgetretenem Lehm. Hier unten herrscht eine feuchte Kälte, die einem bis ins Mark dringt. Der Schatten liegt vollkommen reglos unter seiner Decke, die er sich bis über die Nase gezogen hat, und sieht mit leblosen Augen zu mir auf. Der Alte hat Recht gehabt – lange macht er es sicher nicht mehr.
»Ich geh schon mal«, sagt der Wächter, der den Gestank offenbar nicht länger ertragen kann.
»Ihr könnt euch alleine unterhalten. Redet, worüber ihr wollt, ich hab nichts dagegen. Der Schatten hat sowieso nicht mehr die Kraft, sich mit dir zusammenzutun.«
Als er weg ist, wartet der Schatten noch einen Moment, um die Lage zu prüfen, und winkt mich dann ans Bett.
»Sei so gut und sieh mal oben nach, ob der Wächter nicht lauscht, ja?«, flüstert er mir zu.
Ich nicke, schleiche die Leiter hinauf, hebe die Luke an und sehe mich um. Nichts. Ich steige wieder hinunter.
»Die Luft ist rein«, sage ich.
»Ich habe mit dir zu reden«, sagt er. »Mir geht’s gar nicht so schlecht, wie es aussieht. Ich spiele dem Wächter bloß was vor. Ich bin ziemlich schwach geworden, das stimmt schon. Aber die Kotzerei und die Bettlägerigkeit ist Theater. Keine Sorge, aufstehen und herumlaufen kann ich noch.«
»Alles wegen der Flucht, nicht wahr?«
»Na klar. Sonst würd ich doch nicht so einen Zirkus veranstalten. Ich habe damit drei Tage gewonnen. Und in diesen drei Tagen werden wir fliehen. Denn danach werde ich vielleicht wirklich nicht mehr stehen können. Die Luft hier unten geht ganz schön an die Nieren, sag ich dir. Und die feuchte Kälte zieht einem in die Knochen. – Apropos, wie steht’s denn mit dem Wetter draußen?«
»Es schneit«, sage ich, die Hände in den Taschen vergraben. »Heute Abend soll es noch schlimmer werden. Und furchtbar
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