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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Entropie nimmt stets zu. Wohin aber lässt die Stadt sie ab? Sicher, die Leute hier – nun ja, den Wächter muss man wohl ausnehmen – tun einander nicht weh, fügen sich kein Leid zu, haben keine Begierden. Alle führen ein erfülltes, friedvolles Leben. Warum wohl? Na, weil sie keine Seele haben natürlich!«
    »Das weiß ich doch längst!«, sage ich.
    »Die Menschen dieser Stadt haben diese Vollkommenheit mit ihren Seelen bezahlt. Und durch den Verlust der Seele steckt jeder in unendlich verlängerter Zeit. Deshalb wird niemand älter, deshalb stirbt keiner. Zunächst reißt man einem den Schatten, den Nährboden der Identität, vom Leibe und wartet auf seinen Tod. Und wenn der Schatten erst einmal tot ist, erledigt sich der Rest beinahe von selbst. Man braucht bloß zu warten, bis die Seele sich verausgabt hat, bis die winzigen Absonderungen, die sie Tag für Tag produziert, wie Schaum abgeschöpft worden sind.«
    »Abgeschöpft?«
    »Darüber reden wir später noch. Zunächst das Problem mit der Seele. Du hast eben gesagt, die Stadt kenne keinen Kampf, keinen Hass, keine Begierde. Toll ist das, Klasse! Wenn ich besser drauf wäre, würde ich glatt Beifall klatschen. Aber: Ohne Kampf, Hass und Begierde gibt es auch das Gegenteil nicht – keine Freude, kein Glück, keine Liebe. Gerade weil es Verzweiflung, Enttäuschung und Trauer gibt, entsteht Freude. Ohne Verzweiflung kann es auch kein Glück geben. Genau das meine ich mit Natürlichkeit. – Dann gibt es da selbstverständlich noch die Liebe. Und schon sind wir bei der Kleinen aus der Bibliothek, von der du eben sprachst: Du magst sie lieben, sicher. Aber dein Gefühl führt zu nichts.Warum? Weil sie keine Seele hat. Menschen ohne Seele sind nichts weiter als Puppen auf Beinen, Gespenster. Was hat es denn für einen Sinn, so etwas zu erobern? Hast du es auf die Unsterblichkeit abgesehen? Willst du etwa selbst auch so ein Gespenst werden? Begreif doch: Wenn ich hier sterbe, kommst du nie wieder aus der Stadt raus, du wirst einer von denen, für immer und ewig!«
    Ein erdrückendes, kaltes Schweigen legt sich auf den Kellerraum. Der Schatten hustet wieder.
    »Aber ich kann sie hier nicht zurücklassen! Egal, was sie ist und wie sie ist – ich liebe sie, und ich brauche sie.Wenn ich jetzt fliehe, werde ich es sicher später bereuen, und wenn ich einmal draußen bin, kann ich nie mehr zurück.«
    »Ach, du lieber Gott«, sagt der Schatten, setzt sich im Bett auf und lehnt sich an die Wand. »Dich zu überzeugen wird mich einiges an Kraft kosten, scheint mir. Ich kenn dich ja nun schon ziemlich lange und weiß nur zu gut, dass du ein unverbesserlicher Dickschädel bist, aber musst du unbedingt auf den allerletzten Drücker noch die kompliziertesten Probleme auspacken? Was willst du denn eigentlich? Sag jetzt bloß nicht, dass du zu dritt, mit mir und der Kleinen, fliehen willst – das ist vollkommen ausgeschlossen! Ein Mensch ohne Schatten kann in der Welt draußen nicht leben.«
    »Das weiß ich ja!«, sage ich. »Was ich meine, ist, dass du es vielleicht alleine versuchen solltest. Ich helfe dir auch dabei.«
    »Unsinn. Du scheinst immer noch nicht kapiert zu haben«, sagt der Schatten, den Kopf an die Wand gelehnt. »Wenn ich abhaue und du alleine hier bleibst, wird deine Lage hoffnungslos. Das weiß ich vom Wächter. Alle Schatten müssen hier sterben; auch solche, die hinausgelassen wurden, kehren kurz vor ihrem Tod hierher zurück, um zu sterben. Kommt ein Schatten nicht zurück, stirbt also nicht hier, sondern draußen, bleibt sein Tod unvollkommen. Das bedeutet für dich, dass du mit deiner Seele leben müsstest, für immer. Und zwar im Wald. Dort leben alle, die ihren Schatten nicht ordnungsgemäß zu töten in der Lage waren. Du würdest dorthin verbannt und müsstest auf ewig mit all deinen Gedanken im Wald umherirren. Über den Wald weißt du Bescheid?«
    Ich nicke.
    »Aber nicht, dass du denkst, du könntest die Kleine mitnehmen in den Wald«, fährt der Schatten fort. »Das geht nicht. Warum? Weil sie perfekt ist – beziehungsweise keine Seele hat. Perfekte Menschen wohnen in der Stadt, sie können im Wald nicht leben. Das heißt, du wärst alleine. Und was hat es dann noch für einen Zweck, hier zu bleiben?«
    »Wohin verschwinden denn die Seelen der Menschen?«
    »Menschenskind, du bist doch der Traumleser!«, sagt der Schatten fassungslos. »Sag bloß, das weißt du nicht?«
    »Ich weiß es nicht, na und?«, sage ich.
    »Tja, dann muss

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