Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
ich’s dir wohl verraten: Die Seelen werden durch die Tiere nach draußen vor die Mauer gebracht. Das nennt man abschöpfen. Die Tiere treiben Seelen ein, saugen sie sozusagen auf und bringen sie nach draußen, in die andere Welt. Und wenn der Winter kommt, sterben die Tiere – mit allen Identitäten, die sie in sich angesammelt haben. Was sie umbringt, ist weder Kälte noch Nahrungsmangel, sondern die Last der Identitäten, die ihnen die Stadt aufbürdet. Das tötet sie. Im Frühjahr werden dann Junge geboren, nur so viele, wie alte gestorben sind. Und wenn diese Jungen herangewachsen sind, belädt man sie genauso wie ihre Väter und Mütter mit weggeworfenen Identitäten der Menschen, bis auch sie sterben. Sie zahlen den Preis der Perfektion. Was hat denn eine solche Vollkommenheit für einen Sinn, wenn man sie bloß bewahren kann, indem man schwache, wehrlose Wesen dafür bezahlen lässt?!«
Ich sage nichts, sondern starre nur auf meine Schuhspitzen.
Der Schatten fährt fort: »Wenn die Tiere verendet sind, schneidet der Wächter ihnen den Kopf ab. In ihren Schädeln sind die Identitäten nämlich fein säuberlich eingekerbt. Die Schädel werden sorgfältig gesäubert und für ein Jahr in der Erde vergraben, damit ihre Kraft nachlässt. Dann werden sie in die Bibliothek gebracht, wo der Traumleser die Identitäten an die Atmosphäre freigibt. Die Aufgabe des Traumlesers muss immer ein Mensch übernehmen, der frisch in die Stadt gekommen und dessen Schatten noch nicht gestorben ist. Die von ihm gelesenen Identitäten werden von der Atmosphäre aufgesogen und verschwinden. Weißt du jetzt, was so genannte ›alte Träume‹ sind? Du spielst bei der ganzen Sache in etwa dieselbe Rolle wie das Erdungskabel im elektrischen Stromkreis. Verstehst du, was ich meine?«
»Verstehe schon«, sage ich.
»Sobald sein Schatten tot ist, gehört der Traumleser zur Stadt und legt seine Arbeit nieder. So dreht sich die Stadt auf ewig weiter, in einem perfekten Kreislauf. Für ihre Unvollkommenheiten lässt sie unvollkommene Wesen bezahlen, für sich selbst schöpft sie nur den Rahm ab und lebt davon. Findest du das etwa richtig?! Kommt dir eine solche Welt echt vor? Soll sie so aussehen für dich? Sieh sie dir an mit den Augen der Schwachen und Unvollkommenen, hörst du, mit den Augen der Tiere, der Schatten und der Menschen im Wald!«
Ich starre so lange ins Kerzenlicht, bis mir die Augen wehtun. Ich nehme die Brille ab und wische mir mit dem Handrücken die herunterlaufenden Tränen weg.
»Morgen um drei bin ich da«, sage ich. »Du hast Recht. Diese Stadt ist nichts für mich.«
33 HARD-BOILED WONDERLAND
WÄSCHE BEI REGEN, DER MIETWAGEN, BOB DYLAN
Es war Sonntag, und es regnete: Die vier Trockner im Waschsalon waren alle besetzt. An den Griffen hingen verschiedenfarbige Plastiktüten und Einkaufstaschen. Im Waschsalon befanden sich drei Frauen. Eine war eine Hausfrau Ende dreißig. Die beiden anderen kamen offenbar aus dem Wohnheim der nahe gelegenen Frauenuni. Die Hausfrau machte nichts; sie saß reglos auf ihrem Rohrstühlchen und schaute der rotierenden Wäsche zu, als sähe sie fern. Die Studentinnen blätterten zusammen in einer Ausgabe von JJ . Als ich eingetreten war, hatten die Frauen mich erst eine Weile beäugt, sich bald aber wieder der Wäsche und dem Magazin gewidmet.
Ich setzte mich auf einen Stuhl, nahm die Lufthansa-Tasche auf den Schoß und wartete, dass die Reihe an mich käme. Die Studentinnen hatten kein Gepäck dabei, ihre Wäsche befand sich mithin bereits im Trockner. Sobald einer von den vier Trocknern zum Stillstand kam, war demnach ich an der Reihe. Nun ja, so lange konnte das nicht dauern, ich war erleichtert. Allein der Gedanke, hier womöglich eine ganze Stunde rotierende Wäsche anstarren zu müssen, hätte mich in Depressionen gestürzt. Mir blieben eh keine 24 Stunden mehr.
Ich saß völlig entspannt und fixierte einen unbestimmten Punkt im Raum. Es roch nach Waschsalon, nach dem eigentümlichen Geruch von Wäsche, die heißluftgetrocknet wird, vermengt mit dem Geruch von Waschpulver.
Die Studentinnen neben mir unterhielten sich über Strickmuster. Weder die eine noch die andere war besonders hübsch. Gescheite Mädchen blättern nicht sonntags mittags im Waschsalon Illustrierte durch.
Allen Erwartungen zum Trotz wollten die Trockner nicht aufhören, sich zu drehen. Waschsalons haben ihre eigenen Gesetze. Eines davon lautet: Trockner, auf die man wartet, kommen erst nach einer
Weitere Kostenlose Bücher