Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
Schuld.‹ Wie hieß er noch gleich, warte …«
»Meursault«, sagte ich.
»Genau, Meursault«, wiederholte sie. »Hab ich gelesen, als ich in der Oberstufe war. Die Gymnasiasten heute lesen so was nicht mehr. Ich hab dazu neulich in der Bibliothek eine Untersuchung gemacht. Welchen Schriftsteller magst du denn?«
»Turgenjew.«
»Turgenjew ist kein großer Schriftsteller. Und altmodisch.«
»Kann sein«, sagte ich. »Aber ich mag ihn. Gut sind auch Flaubert und Thomas Hardy.«
»Liest du nichts Neues?«
»Ab und zu ein bisschen Somerset Maugham.«
»Als neu kann man den nun auch nicht gerade bezeichnen«, sagte sie, ihr Weinglas schräg haltend.
»Ist aber interessant. Auf Messers Schneide habe ich dreimal gelesen. Kein großer Roman, aber unterhaltsam. Besser als umgekehrt.«
»Meinst du?«, sagte sie zweifelnd. »Aber egal. Das orangefarbene Hemd steht dir wirklich gut.«
»Danke schön«, sagte ich. »Dein Kleid ist auch sehr hübsch.«
»Man dankt«, sagte sie.
Sie trug ein dunkelblaues Samtkleid mit kleinem weißen Spitzenkragen. Um den Hals hatte sie zwei feine Silberkettchen. »Nach deinem Anruf bin ich schnell nach Hause und hab mich umgezogen. Nah am Arbeitsplatz zu wohnen ist enorm praktisch.«
»Ach so, deshalb«, sagte ich. Deshalb.
Die ersten Antipasti wurden gebracht; eine Weile aßen wir schweigend. Alles war von schlichter Eleganz, die Zutaten frisch. Die Austern rochen nach Mutter Meer, wie gerade erst eingeholt.
»Ist die Sache mit den Einhörnern jetzt abgeschlossen?«, fragte sie, während sie mit der Gabel eine Auster aus der Schale löste.
»Na ja«, sagte ich und wischte mir mit der Serviette Tintenfischtinte aus dem Mundwinkel. »Wie man’s nimmt.«
»Wo waren sie denn?«
»Hier«, sagte ich und tippte mir mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Sie leben in meinem Kopf. Eine ganze Herde.«
»Symbolisch, meinst du?«
»Nein, nein. Ganz ohne Symbolik. Sie leben in meinem Kopf, wirklich und tatsächlich. Jemand hat das für mich herausgefunden.«
»Klingt interessant. Erzähl mir mehr davon!«
»So interessant ist es gar nicht«, sagte ich und schob ihr den Teller Auberginen hin. Sie gab mir dafür den Stint.
»Ich möchte es aber gerne hören!«
»Tief im Bewusstsein gibt es eine Art für den Betreffenden selbst nicht sinnlich wahrnehmbaren Kern. In meinem Fall ist es eine Stadt. Ein Fluss fließt hindurch, und sie ist von einer hohen Mauer aus Ziegelsteinen umgeben. Die Bewohner können nicht heraus. Nur die Einhörner können die Stadt verlassen.Wie Löschpapier saugen sie die Identität, das Ego der Bewohner auf und transportieren es vor die Stadt. Deshalb gibt es in der Stadt keine Identität, kein Ego. Ich wohne in der Stadt – vielmehr soll darin wohnen. Mehr kann ich dazu nicht sagen, ich hab sie ja mit eigenen Augen gar nicht gesehen.«
»Das ist eine sehr originelle Geschichte«, sagte sie. Nachdem ich ihr die Sache erklärt hatte, fiel mir auf, dass der Professor von einem Fluss kein Wort gesagt hatte. Offenbar zog es mich Stück für Stück in diese Welt hinein.
»Ich habe sie aber nicht bewusst kreiert«, sagte ich.
»Aber du hast sie kreiert, wenn auch vielleicht unbewusst, nicht wahr?«
»Schon«, sagte ich.
»Der Stint ist nicht schlecht, oder?«
»Ganz im Gegenteil.«
»Sag mal, findest du nicht, dass diese Geschichte der russischen Einhorn-Geschichte ähnelt, die ich dir vorgelesen habe?«, sagte sie, während sie mit dem Messer eine Aubergine zerteilte. »Die ukrainischen Einhörner bildeten doch auch eine von Klippen abgeschirmte eigene Gemeinschaft.«
»Das stimmt«, sagte ich.
»Vielleicht gibt es da Berührungspunkte!«
»Bevor ich’s vergesse«, sagte ich und griff in die Tasche meines Blazers. »Ich habe ein Geschenk für dich!«
»Ich liebe Geschenke!«, sagte sie.
Ich zog den Nagelknipser heraus und gab ihn ihr. Sie holte ihn aus dem Beutelchen hervor und betrachtete ihn verwundert. »Was ist denn das?«
»Gib mal her«, sagte ich und nahm den Knipser wieder in Empfang. »Schau genau hin! Nummer eins, Nummer zwei – und drei!«
»Ein Nagelknipser?«
»Exakt. Auf Reisen sehr praktisch. Zurück geht’s genau umgekehrt. Da, schau!« Ich verwandelte den Knipser wieder in den ursprünglichen Edelstahlblock und gab ihn ihr zurück. Sie probierte es selbst einmal. Knipser, Block.
»Interessant. Vielen Dank!«, sagte sie. »Sag mal, schenkst du Frauen oft so was?«
»Einen Nagelknipser das erste Mal. Ich war eben in einer
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