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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Spitzenvorhänge zu und löschte das Licht. Dann entkleidete sie sich, im Schein des Mondes. Sie legte ihre Halskettchen und ihre wie ein Armreif geformte Uhr ab und zog das Samtkleid aus. Ich streifte ebenfalls meine Uhr ab und warf sie aufs Sofa. Dann zog ich den Blazer aus, lockerte die Krawatte und stürzte den im Glas verbliebenen Rest Whiskey hinunter.
    Als sie ihre Strumpfhose zu den Knöcheln rollte, wechselte die Musik; Ray Charles sang Georgia on My Mind. Ich schloss die Augen, legte die Beine auf den Tisch und schwenkte, so wie man im Whiskeyglas die Eiswürfel schwenkt, im Kopf die Zeit. Alles, das alles war vor Zeiten schon einmal passiert. Nur die Kleider, die ausgezogen wurden, die Musik und die Worte unterschieden sich ein wenig. Doch das machte keinen Unterschied. Man drehte sich und drehte sich, nur um wieder und wieder an derselben Stelle anzukommen. Ein totes Rennen auf dem Karussell. Keiner zieht vorbei, keiner bleibt zurück, das Ziel ist stets dasselbe.
    »Das alles, alles ist, scheint mir, vor Zeiten schon einmal passiert«, sagte ich mit geschlossenen Augen.
    »Natürlich«, sagte sie. Dann nahm sie mir das Glas aus der Hand und knöpfte mein Hemd auf, langsam, bedächtig, als putze sie Bohnen.
    »Wieso weißt du das?«
    »Weil ich weiß«, sagte sie. Und gab mir einen Kuss auf die nackte Brust. Ihr langes Haar hing auf meinen Bauch herab. »Alles, alles ist früher schon einmal passiert. Es dreht sich nur, wiederholt sich nur, wolltest du sagen, nicht wahr?«
    Ich behielt die Augen geschlossen, überließ mich ihren Küssen und der Berührung ihres Haars. Ich dachte an den Barsch, an den Nagelknipser, an die Schnecke auf der Bank vor der Wäscherei. Die Welt ist voller Andeutungen.
    Ich öffnete die Augen und nahm die Frau sachte in die Arme, um den Büstenhalter hinten aufzuhaken. Er hatte keinen Haken.
    »Vorne«, sagte sie.
    Fortschritt – es gab ihn also doch.

    Wir schliefen dreimal miteinander, duschten, wickelten uns auf dem Sofa in eine Decke und hörten Bing Crosby. Ich fühlte mich wunderbar. Mein Penis hatte gestanden wie die Pyramide von Giseh, ihr Haar duftete herrlich nach Balsamspülung, und die Polsterung des Sofas war nicht zu weich, ein wirklich gutes Sofa. Ein Sofa aus den Zeiten, als man noch gute Sofas machte, es roch nach Sonne vergangener Tage. Ein Sofa aus einer Zeit, als solche Sofas eine Selbstverständlichkeit waren.
    »Ein gutes Sofa hast du«, sagte ich.
    »Ach, das alte Ding! Ich wollte mir schon lange ein neues kaufen.«
    »Behalt es lieber.«
    »Gut, ich behalt’s«, sagte sie.
    Bing Crosby sang Danny Boy; ich sang mit.
    »Du magst dieses Lied?«
    »Sehr«, sagte ich. »In der Grundschule hab ich es bei einem Mundharmonikawettbewerb gespielt und dafür den ersten Preis bekommen, ein Dutzend Bleistifte. Ich konnte früher wirklich gut Mundharmonika spielen.«
    Sie lachte. »Das Leben ist wirklich komisch.«
    »Das kann man wohl sagen«, sagte ich.
    Sie legte noch einmal Danny Boy auf, und ich sang noch einmal mit. Diesmal wurde ich irgendwie traurig dabei.
    »Schreibst du mir mal?«, fragte sie.
    »Klar«, sagte ich. »Falls man von dort Briefe schicken kann.«
    Wir teilten uns den Rest des Weines, der noch in der Flasche war.
    »Weißt du, wie spät es ist?«, fragte ich.
    »Mitternacht«, antwortete sie.

36  DAS ENDE DER WELT
DIE KONZERTINA
    »Du fühlst es, nicht wahr?«, sagt die Bibliothekarin. »Du fühlst, dass du meine Seele lesen kannst.«
    »Ja. Sie muss hier irgendwo sein, greifbar nahe, ich habe nur noch nicht erkannt, wo! Außerdem kommt es mir so vor, als hätte ich auch die Methode, sie zu finden, schon einmal vor Augen gehabt.«
    »Wenn du es fühlst, wird es stimmen.«
    »Aber ich kann sie einfach nicht finden!«
    Wir sitzen im Magazin auf dem Boden, Seite an Seite, an die Wand gelehnt und sehen zu den Schädelreihen auf. Die Schädel starren schweigend zurück, nicht einer verrät auch nur eine Silbe.
    »Denk mal nach: Versuche, dich an alles zu erinnern, was um dich herum geschehen ist, seit es deinem Schatten schlechter geht, an jedes Detail. Darin könnte der Schlüssel versteckt liegen, der Schlüssel zu meiner Seele«, sagt sie und sieht mich erwartungsvoll an.
    Ich sitze auf dem kalten Fußboden und lausche mit geschlossenen Augen dem dröhnenden Schweigen der Schädel.
    »Heute Morgen haben ein paar alte Männer ein Loch ausgehoben, direkt unter meinem Fenster. Keine Ahnung, was sie darin begraben wollen, aber es ist ein sehr

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