Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
und sanft hinsehen. Doch abwenden dürfen Sie Ihre Augen nie. Sosehr es auch blenden mag, wegsehen dürfen Sie nicht.«
»Es blendet?«
»Ja. Wenn Sie ihn eine Weile angesehen haben, beginnt der Schädel zu glühen und zu strahlen. Sie brauchen diesen Lichtstrahlen nur leise mit den Fingerspitzen zu folgen, dann müssten Sie die alten Träume lesen können.«
Ich versuche, die Arbeitsschritte, die sie mir erklärt hat, noch einmal der Reihe nach im Kopf zu rekapitulieren. Natürlich kann ich mir nicht vorstellen, was das für Lichtstrahlen sein sollen, von denen sie gesprochen hat, oder wie sie sich anfühlen würden, aber fürs Erste habe ich die Arbeitsgänge memoriert. Während ich so ihre schlanken Hände auf dem Schädel betrachte, überfällt mich plötzlich ein starkes Gefühl von déjà-vu. Habe ich diesen Schädel nicht schon einmal irgendwo gesehen? Diese bleiche, wie ausgekochte Farbe, die Vertiefung in der Stirn – der Anblick erschüttert mich auf ähnliche Weise, wie mich der erste Blick in ihr Gesicht erschütterte. Aber ich weiß nicht, ob es sich um ein Fragment echter Erinnerung handelt oder um eine Sinnestäuschung infolge einer plötzlichen Störung meiner Wahrnehmung von Ort und Zeit.
»Was haben Sie denn?«, fragt sie.
Ich schüttele den Kopf. »Nichts. Ich war nur ein bisschen in Gedanken. Ich glaube, ich habe Ihre Anweisungen jetzt begriffen. Bleibt nur noch, es selbst zu probieren.«
»Lassen Sie uns erst essen«, sagt sie. »Wenn Sie mit der Arbeit angefangen haben, werden Sie keine Zeit mehr dazu haben, glaube ich.«
Sie holt einen Topf aus der kleinen Kochecke im Hinterzimmer und stellt ihn zum Warmmachen auf den Ofen. Es ist ein Gemüseeintopf mit Zwiebeln und Kartoffeln. Als die Suppe gemütlich zu brodeln beginnt, füllt sie sie in zwei Teller, die sie zusammen mit Nussbrötchen zum Tisch trägt.
Wir sitzen uns gegenüber und löffeln wortlos. Es ist ein einfaches Essen, mit Gewürzen, die ich noch nie gekostet habe, aber es schmeckt gar nicht übel, und nach dem Essen fühle ich mich wohlig warm. Danach gibt es heißen Tee. Grünlicher Tee mit dem bitteren Beigeschmack von Heilkräutern.
Das Traumlesen ist anstrengender, als die Erläuterungen der Frau haben vermuten lassen. Die Lichtstrahlen sind hauchdünn, und wie sehr ich mich auch auf meine Fingerspitzen konzentriere, ich kann dem labyrinthischen Gewirr nur schwer folgen. Trotzdem, ich spüre jetzt mit den Fingerspitzen ganz genau die Existenz der alten Träume. Es ist wie ein Rauschen, wie eine nicht enden wollende Bilderflut. Doch meine Hände vermögen noch keine klaren Informationen zu entnehmen. Ich kann lediglich mit Sicherheit sagen, dass die Träume da sind.
Als ich endlich zwei Träume zu Ende gelesen habe, ist es schon nach zehn Uhr. Ich gebe ihr den Schädel zurück, den ich um ein paar Träume erleichtert habe, nehme die Brille ab und reibe mir langsam die brennenden Augen.
»Erschöpft, was?«, fragt sie mich.
»Ja, ein bisschen«, antworte ich. »Die Augen machen nicht so recht mit. Wenn ich lange hingesehen habe, nimmt das Auge den Strahl des alten Traums zwar auf, aber ich bekomme Kopfschmerzen, hier hinten. Es ist nicht sehr schlimm, aber das Blickfeld verschwimmt und ich kann meine Augen nicht mehr auf einen Punkt fixieren.«
»Das ist am Anfang immer so«, sagt sie. »In der ersten Zeit wollen die Augen nicht so recht, und das Lesen fällt schwer. Aber machen Sie sich keine Sorgen, die Augen werden sich bald daran gewöhnt haben. Wir wollen die Arbeit langsam angehen lassen.«
»Das wird das Beste sein«, sage ich.
Sie bringt die alten Träume wieder zurück ins Archiv und trifft Vorbereitungen, nach Hause zu gehen. Sie öffnet die Ofentür, holt mit einem Schäufelchen die rotglühende Kohle heraus und schüttet sie in einen Eimer mit Sand.
»Die Erschöpfung darf sich nicht in der Seele breit machen«, sagt sie. »Das hat meine Mutter immer gesagt. Körperlich darf man sich ruhig verausgaben, aber seine Seele muss man davon freihalten.«
»Ein guter Rat«, sage ich.
»Aber ehrlich gesagt, ich weiß gar nicht, was das eigentlich ist, die Seele, welche genaue Bedeutung sie hat, wie und wozu man sie benutzt. Für mich ist es nur ein Wort.«
»Man benutzt die Seele nicht«, sage ich, »sie ist einfach da. Wie der Wind. Sie brauchen sie nur zu spüren.«
Sie schließt die Ofentür, bringt die Emailkanne und die Tassen in das Hinterzimmer und spült sie ab. Dann zieht sie sich einen blauen
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