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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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steht. Sie sagt nichts, blickt nur weiter auf die »alten Träume« hinunter. Aber das Objekt, das da auf dem Tisch liegt, entspricht für mich nicht einmal annähernd der Bezeichnung »alte Träume«. Dem Klang des Wortes nach habe ich mir alte Schriften oder wenigstens irgendetwas mit einer vageren, absurderen Gestalt vorgestellt.
    »Das sind alte Träume«, sagt sie.
    Ihre Stimme klingt abwesend und unbestimmt – sie scheint es weniger mir erklären als vielmehr sich selbst bestätigen zu wollen. »Genau genommen sind sie da drin.«
    Ich nicke verständnislos.
    »Nehmen Sie ihn mal in die Hand«, sagt sie.
    Sachte hebe ich ihn an und bemühe mich nach Kräften, ihn mit den Augen nach wie auch immer gearteten Spuren alter Träume abzutasten. Aber so aufmerksam ich auch hinsehe, ich finde keinerlei Anhaltspunkte dafür. Es ist und bleibt der Schädel eines Tieres. Kein großes Tier. Er sieht aus, als sei er lange Zeit der Sonne ausgesetzt gewesen, denn die Knochenoberfläche hat ihre ursprüngliche Farbe verloren, ist völlig ausgetrocknet und ausgeblichen. Der weit vorstehende Kiefer steht leicht offen, als sei er just in dem Moment versteinert, als er zu erzählen anhub. Die beiden kleinen Augenhöhlen haben ihren Inhalt längst eingebüßt und führen in tiefes, weites Nichts.
    Der Schädel ist unnatürlich leicht; seine materielle Existenz scheint ihm geradezu abhanden gekommen zu sein. Welche Art von Leben er beherbergt hat, kann ich nicht einmal erahnen. Alles Leibliche, alle Erinnerung, alle Wärme ist entwichen. Mitten auf der Stirn ist eine kleine Vertiefung, die sich rau anfühlt. Ich untersuche sie eine Weile mit dem Finger und komme zu dem Schluss, dass es sich um das Mal eines abgebrochenen Horns handeln könnte.
    »Das ist der Schädel eines der städtischen Einhörner, nicht wahr?«, frage ich sie.
    Sie nickt. »Die alten Träume wurden in den Schädel eingelassen und dort versiegelt«, sagt sie leise.
    »Und ich soll sie jetzt da herauslesen?«
    »Das ist die Arbeit des Traumlesers«, sagt sie.
    »Und was soll ich dann mit den Träumen machen?«
    »Nichts. Sie brauchen sie nur herauszulesen.«
    »Also, das begreife ich nicht«, sage ich. »Dass ich alte Träume lesen soll, habe ich so weit verstanden. Aber dass ich dann nichts weiter damit machen soll, will mir nicht in den Kopf. Das bedeutet doch, dass die Arbeit gar keinen Sinn hat. Arbeit muss doch irgendeinen Zweck haben! Zum Beispiel, die Träume irgendwie festzuhalten oder sie nach irgendeinem System zu ordnen oder zu kategorisieren oder so.«
    Sie schüttelt den Kopf. »Worin der Sinn liegt, kann ich Ihnen auch nicht erklären. Vielleicht kommen Sie bei der Arbeit von alleine drauf. Aber das spielt auch keine Rolle, solcher Sinn hat mit Ihrer eigentlichen Arbeit nicht das Geringste zu tun.«
    Ich stelle den Schädel wieder auf den Tisch und sehe ihn mir noch einmal aus der Entfernung an. Man denkt unwillkürlich an das Nichts, so fest umschließt ihn tiefe Stille. Nein, umgekehrt – diese Stille kommt gar nicht von außen, sie scheint vielmehr wie Rauch aus dem Inneren des Schädels aufzusteigen. Wie auch immer – es ist jedenfalls eine merkwürdige Stille. Mir ist, als sei er dadurch fest mit dem Erdmittelpunkt verbunden. Schweigend starrt der Schädel mit leerem Blick auf einen Punkt im Nichts.
    Je länger ich hinsehe, desto weniger kann ich mir vorstellen, dass dieses Ding etwas zu erzählen haben soll. Es scheint auch von einer irgendwie traurigen Atmosphäre umgeben zu sein, aber nicht einmal mir selbst kann ich diese Traurigkeit genau benennen. Das rechte Wort ist mir abhanden gekommen.
    »Na gut, ich lese«, sage ich, nehme den Schädel noch einmal in die Hand und versuche, sein Gewicht abzuschätzen. »Mir bleibt ja wohl nichts anderes übrig.«
    Mit dem Hauch eines Lächelns nimmt sie mir den Schädel aus der Hand, wischt mit zwei Tüchern sorgfältig den Staub ab, der sich darauf angesammelt hat, und stellt ihn bleicher als bleich auf den Tisch zurück.
    »Nun, dann will ich Ihnen erklären, wie man Träume liest«, sagt sie. »Natürlich kann ich nur so tun als ob, ich bin nicht wirklich imstande dazu. Nur Sie können tatsächlich lesen. Passen Sie auf. Zunächst drehen Sie den Schädel nach vorne, so, und legen sachte beide Hände auf, ungefähr da, wo die Schläfen sind.«
    Sie umfasst den Schädel an beiden Seiten und sieht mich prüfend an.
    »Jetzt richten Sie Ihre Augen auf die Stirn. Aber nicht starren, sondern nur sachte

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