Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
hatte. Ich steckte ihn in meine Geldbörse. »Quittung?«
»Brauche ich nicht«, sagte die Kleine.
Wir verließen das Zimmer und liefen denselben langen Korridor zurück zum Aufzug, treppauf, treppab, um tausend Ecken. Und wie auf dem Hinweg hallte es im Korridor vom Geklapper ihrer Stöckelschuhe. Ihre Dicke brachte mich diesmal aber nicht so sehr aus dem Konzept. Neben ihr hergehend vergaß ich sogar beinahe, dass sie dick war. Wahrscheinlich hatte ich mich inzwischen an ihr Dicksein gewöhnt.
»Bist du verheiratet?«, fragte sie.
»Nein«, sagte ich. »Ich war es mal, aber jetzt bin ich es nicht mehr.«
»Ist deine Ehe gescheitert, weil du Kalkulator geworden bist? Man hört ja oft, Kalkulatoren seien keine Familienmenschen.«
»Das hat nichts damit zu tun. Auch Kalkulatoren können Frau und Kinder haben, ich kenne eine Menge, die das prima schaffen. Aber die meisten sind in der Tat der Ansicht, dass die Arbeit ohne Familie leichter zu bewerkstelligen ist. Unsere Arbeit geht aufs Nervensystem, und oft ist sie gefährlich, Frau und Kinder belasten da.«
»Wie war es denn bei dir?«
»Ich bin Kalkulator geworden, als ich schon geschieden war. Mit dem Beruf hatte das nichts zu tun.«
»Ach so«, sagte sie. »Entschuldige, dass ich so komische Sachen frage, aber du bist der erste Kalkulator, den ich treffe, da würde ich gern alles Mögliche wissen.«
»Bitte, bitte, nur zu«, sagte ich.
»Ich hab gehört, dass Kalkulatoren, wenn sie mit einer Arbeit fertig sind, unglaubliche Lust auf Sex kriegen, stimmt das?«
»Ich weiß nicht. Kann sein, dass so etwas vorkommt. Bei der Arbeit werden ja die unmöglichsten Nerven beansprucht.«
»Gehst du dann mit der Erstbesten ins Bett? Oder hast du eine feste Freundin?«
»Ich habe keine feste Freundin«, sagte ich.
»Mit wem schläfst du denn dann? Oder interessiert Sex dich nicht? Oder bist du homosexuell? Willst du darauf lieber nicht antworten?«
»Weder noch«, sagte ich. Ich bin nicht der Typ, der bereitwillig sein Privatleben ausplaudert, aber da ich auch nichts zu verbergen habe, gebe ich auf eine anständige Frage eine anständige Antwort.
»Ich schlafe in solchen Fällen mal mit dieser und mal mit jener«, sagte ich.
»Würdest du auch mit mir schlafen?«
»Mit dir wahrscheinlich nicht.«
»Warum nicht?«
»Aus Prinzip nicht. Mit Bekannten schlafe ich selten. Das zieht meistens Probleme nach sich. Und mit Frauen, die mit der Arbeit zu tun haben, schlafe ich auch nicht. Mein Beruf ist, anderer Leute Geheimnisse zu hüten, da muss man eine scharfe Trennlinie ziehen.«
»Ist es, weil ich dick bin und hässlich?«
»Erstens bist du nicht so dick, und zweitens bist du kein bisschen hässlich«, sagte ich.
»Danke«, sagte sie. »Mit wem schläfst du denn nun? Sprichst du einfach irgendeine an?«
»Manchmal, ja.«
»Oder kaufst du dir eine?«
»Auch das manchmal, ja.«
»Wenn ich dir sagen würde, für Geld schlafe ich mit dir, gingst du dann mit mir ins Bett?«
»Nein«, antwortete ich, »der Altersunterschied wäre zu groß. Wenn die Mädchen zu jung sind, fühle ich mich unsicher.«
»Ich bin anders.«
»Kann sein. Aber ich will nicht für mehr Ärger sorgen, als ich schon habe. Wenn’s geht, möchte ich ein stilles Leben führen.«
»Mein Großvater sagt, beim ersten Beischlaf wäre ein Mann von über 35 am besten. Wenn der Sexualtrieb unterdrückt würde, würde das Gehirn nicht mehr klar arbeiten.«
»Das hat er mir auch erzählt.«
»Ob das stimmt?«
»Ich weiß nicht, ich bin kein Biologe«, sagte ich. »Aber der sexuelle Appetit ist bei jedem verschieden, ich glaube nicht, dass man das so einfach behaupten kann.«
»Deiner ist groß?«
»Eher normal, würde ich sagen«, antwortete ich nach kurzem Überlegen.
»Wie meiner ist, weiß ich nicht«, sagte das dicke Mädchen. »Deswegen würde ich gerne das eine oder andere mal ausprobieren.«
Während ich noch überlegte, wie darauf am besten zu antworten sei, kamen wir am Aufzug an. Brav wie ein dressierter Hund öffnete er sich und wartete, dass ich einstiege.
»Tja dann«, sagte das Mädchen, »bis zum nächsten Mal.«
Als ich einstieg, schlossen sich lautlos die Türen. Ich lehnte mich an die Edelstahlwand und seufzte.
6 DAS ENDE DER WELT
DER SCHATTEN
Als sie mir die ersten alten Träume auf den Tisch legt, kann ich zunächst nicht begreifen, was daran alte Träume sein sollen. Nachdem ich eine ziemliche Weile daraufgestarrt habe, sehe ich zu der Frau hoch, die neben mir
Weitere Kostenlose Bücher