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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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»Lassen wir das. Reden wir stattdessen von den Einhörnern. Die waren doch der eigentliche Grund, weshalb du mich gerufen hast, nicht wahr?«
    Ich nickte, nahm die leeren Gläser und stellte sie auf dem Boden ab. Sie griff sich die beiden Bücher, die am Kopfende lagen. Bei dem einen handelte es sich um Bertrand Coopers Archäologie der Tiere, bei dem anderen um Borges’ Book of Imaginary Beings.
    »Bevor ich herkam, habe ich die beiden Bücher quergelesen. Kurz gesagt, behandelt dieses hier (sie nahm The Book of Imaginary Beings in die Hand) das Einhorn als ein Phantasieprodukt, wie Drachen oder Seejungfrauen, während dieses hier (sie nahm die Archäologie der Tiere in die Hand) einen wissenschaftlichen Ansatz vertritt ausgehend davon, dass nicht gesagt sein müsse, dass Einhörner nie existiert haben. Über das Einhorn selbst berichten beide Bücher aber leider nur wenig. Verglichen mit den Beschreibungen von Drachen und Kobolden sogar erstaunlich wenig. Was, denke ich mir, daran liegen könnte, dass das Einhorn ein sehr stiller Vertreter ist … Mehr war in unserer Bibliothek nicht zu holen, tut mir leid.«
    »Das reicht voll und ganz. Hauptsache, ich weiß in groben Zügen Bescheid. Vielen Dank!«
    Sie hielt mir die beiden Bände hin.
    »Könntest du mir nicht kurz erzählen, was drinsteht?«, sagte ich. »Mündlich kriegt man einen besseren Überblick.«
    Sie nickte, nahm zuerst The Book of Imaginary Beings in die Hand und schlug es auf. »›Was der Drache bedeutet, ist uns ebenso wenig klar wie die Bedeutung des Universums‹«, las sie vor. »Das ist das Vorwort.«
    »Nicht uninteressant«, sagte ich.
    Dann schlug sie eine Seite ganz hinten im Buch auf, die sie mit einem Lesezeichen markiert hatte. »Was man sich zuerst merken muss, ist, dass es zwei Arten von Einhörnern gibt. Das erste ist die europäische, von Griechenland ausgehende Ausgabe, das andere ist die chinesische. Sie unterscheiden sich vom Aussehen her, und sie werden von den Leuten auch auf völlig verschiedene Weise begriffen. Die Griechen beispielsweise beschreiben das Einhorn so: ›Der Körper ähnelt dem eines Pferdes, der Kopf einem Hirsch, die Füße denen eines Elefanten, der Schwanz dem eines Ebers. Das Einhorn röhrt mit tiefer Stimme, und mitten aus seiner Stirn ragt ein drei Fuß langes, schwarzes Horn. Man sagt, es sei unmöglich, dieses Tier lebend zu fangen.‹ Das chinesische Einhorn dagegen wird so beschrieben: ›Es hat den Körper eines Hirsches, den Schwanz eines Ochsen und die Hufe eines Pferdes. Sein kurzes, aus der Stirn wachsendes Horn ist aus Fleisch. Sein Fell ist auf dem Rücken fünffarbig, der Bauch dagegen ist braun oder gelb.‹ Ein ziemlicher Unterschied, findest du nicht?«
    »Doch«, sagte ich.
    »Nicht nur das Aussehen, auch das Wesen des Einhorns und die Bedeutung, die man dem Tier beimisst, sind im Osten und im Westen völlig verschieden. Im Westen gilt das Einhorn als extrem wild und angriffslustig. Immerhin hat es ein drei Fuß langes Horn, das ist fast ein Meter. Laut Leonardo da Vinci gibt es nur einen Weg, ein Einhorn zu fangen, und zwar, indem man sich seine Wollust zunutze macht. Man platziert eine Jungfrau vor das Tier, sodass es vor Wollust vergisst anzugreifen und den Kopf in den Schoß des Mädchens legt; dann kann man es fangen. Was das Horn bedeutet, ist dir klar, ja?«
    »Ich denke schon.«
    »Damit verglichen ist das chinesische Einhorn ein glückverheißendes, heiliges Tier. Es ist eines der vier Glückstiere – neben dem Drachen, dem Phönix und der Schildkröte – und nimmt unter den 365 Erdtieren den höchsten Rang ein. Es ist von außerordentlich friedliebendem Wesen, achtet darauf, beim Laufen auch nicht das kleinste Lebewesen zu zertreten, und frisst nur verdorrtes, niemals frisches Gras. Es lebt etwa tausend Jahre, und sein Erscheinen zeigt die Geburt eines heiligen Königs an. So hat die Mutter des Konfuzius, als sie schwanger ging, ein Einhorn gesehen. ›Siebzig Jahre danach töteten Jäger ein k’i-lin, das um sein Horn noch immer ein Stück des Bandes trug, das Konfuzius’ Mutter dort befestigt hatte. Konfuzius sah sich das Einhorn an und weinte, weil er spürte, was der Tod dieses unschuldigen, mysteriösen Tieres bedeutete, und weil in diesem Band seine Vergangenheit lag.‹ Ist das nicht interessant? Im dreizehnten Jahrhundert taucht das Einhorn noch einmal in der Geschichte Chinas auf. Ein Spähtrupp der Armee Dschingis Khans, die die Invasion Indiens plante, traf

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