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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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zusammen ein Paar. Wie das Brötchen und die Wurst.«
    »Aha«, sagte ich. Aha.
    »Das Wichtigste sind die Augen. Da sie bei Angriff und Verteidigung den Kontrollturm bilden, sollten die Hörner am besten nahe bei den Augen stehen. Ein gutes Beispiel ist das Rhinozeros. Das Rhinozeros, im Prinzip ein Einhorn, ist extrem kurzsichtig. Die Ursache für seine Kurzsichtigkeit liegt darin, dass es nur ein Horn hat. Eine Art Missbildung. Trotz dieses Schwachpunktes überleben konnte es, weil es ein Pflanzenfresser und weil es gepanzert ist. Die Notwendigkeit, sich zu verteidigen, besteht für es kaum. In diesem Sinne und auch vom Körperbau her ähnelt das Rhinozeros den dreihörnigen Sauriern. Das Einhorn, wie es auf Abbildungen zu sehen ist, gehört jedoch eindeutig nicht in diese Gruppe. Es ist nicht gepanzert, es ist völlig … wie soll ich sagen …«
    »Wehrlos«, sagte ich.
    »Genau. Wie ein Reh. Wenn dann noch Kurzsichtigkeit hinzukommt, das ist tödlich. Der Geruchs- und Gehörsinn können entwickelt sein, wie sie wollen, wenn dem Einhorn der Fluchtweg abgeschnitten wird, ist es aus mit ihm. Ein Einhorn anzugreifen ist deshalb ungefähr dasselbe, wie mit einem Präzisionsschrotgewehr eine fluguntaugliche Hausente zu erlegen. Ein weiterer Schwachpunkt des Einhornes ist, dass Verletzungen des Horns tödlich sind. Ohne Ersatzreifen mit dem Auto durch die Sahara, so ungefähr ist das. Verstehst du, was ich meine?«
    »Ja.«
    »Ein zusätzlicher Schwachpunkt liegt darin, dass das Horn nur schwer mit Wucht eingesetzt werden kann. Stell dir Schneide- und Backenzähne vor. Mit den Backenzähnen lässt sich kraftvoller zubeißen, nicht wahr? Das ist, wie ich eben schon angeschnitten habe, eine Frage der Balance der Kräfte. Man braucht schwere Extremitäten, und je mehr Kraft hineingepumpt wird, desto stabiler wird die Gesamtheit. Na? Ist dir jetzt klar, welch eine Fehlkonstruktion das Einhorn ist?«
    »Völlig klar«, sagte ich. »Du kannst wirklich gut erklären.«
    Sie strahlte und fuhr mir mit den Fingern über die Brust. »Aber das ist nicht alles. Eine Möglichkeit, der Auslöschung zu entgehen und zu überleben, ist für das Einhorn theoretisch immerhin denkbar. Das ist der wichtigste Punkt überhaupt – welcher, na, was meinst du?«
    »Das Fehlen natürlicher Feinde«, sagte ich.
    »Bingo«, sagte sie und gab mir einen Kuss. »Gut: Nenne mir eine Bedingung für das Fehlen natürlicher Feinde.«
    »Der Lebensraum des Einhorns muss abgeschieden sein. Andere Tiere dürfen nicht eindringen können«, sagte ich. »Zum Beispiel in einem sehr hoch gelegenen Stück Land, wie in Conan Doyles Verlorener Welt, oder in einer tiefen Senke. Oder rings umgeben von hohen Felswänden, wie auf dem Grund eines Kraters.«
    »Großartig«, sagte sie und tippte mir mit dem Zeigefinger aufs Herz. »Tatsächlich existieren Aufzeichnungen über den Fund eines Einhornschädels, und der Fundort erfüllt genau diese Bedingungen.«
    Unwillkürlich musste ich schlucken. Ohne mein Zutun näherte ich mich dem Kern der Sache.
    »Gefunden wurde der Schädel im Jahre 1917 an der russischen Front. Im September.«
    »Vormonat der Oktoberrevolution, Erster Weltkrieg. Kabinett Kerenskij«, sagte ich. »Unmittelbar, bevor die Bolschewiken in Aktion traten.«
    »Den Schädel fand ein russischer Soldat an der ukrainischen Front beim Ausheben eines Schützengrabens. Er hielt ihn für einen gewöhnlichen Rinder- oder Elchschädel und schmiss ihn einfach hinaus. Das wäre es gewesen, und der Schädel wäre vom Dunkel der Geschichte wieder ins Dunkel zurückgewandert, wenn nicht ein Hauptmann, der die Einheit des Soldaten hin und wieder befehligte, Doktorand der Biologie an der Universität Petrograd gewesen wäre. Der nahm den Schädel mit in die Baracken und unterzog ihn einer eingehenden Untersuchung. Und fand, dass er sich von allen Tierschädeln, die er bis dahin gesehen hatte, unterschied. Er meldete den Fund unverzüglich dem Ordinarius für Biologie der Universität Petrograd und wartete auf eine Spezialistengruppe, aber die kam nicht. Kein Wunder: Im damaligen Russland ging es drunter und drüber, an der Front fehlte es an Nahrungsmitteln, an Munition, an Medikamenten, überall brachen Streiks aus, das war keine Situation, in der eine Gruppe von Wissenschaftlern zu Untersuchungen an die Front hätte ziehen können. Und selbst wenn, hätten sie wohl kaum die Zeit und Muße für eine gründliche Untersuchung gehabt. Die russischen Armeen erlitten

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