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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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nämlich eine Niederlage nach der anderen, die vorderste Linie verschob sich ständig nach hinten, und sofort rückten die Deutschen nach.«
    »Was ist aus dem Hauptmann geworden?«
    »Im November des Jahres hat man ihn an einem Telegraphenmast aufgehängt. Von der Ukraine bis nach Moskau stand zur Aufrechterhaltung der Nachrichtenlinie ein Mast neben dem anderen, die meisten Offiziere aus der Bourgeoisie wurden dort aufgeknüpft. Und dieser Hauptmann eben auch, obwohl er nur Student der Biologie war und mit Politik nichts zu tun hatte.«
    Ich versuchte, mir das russische Flachland vorzustellen mit einem Spalier von Telegraphenmasten, an denen jeweils ein Offizier aufgeknüpft war.
    »Unmittelbar bevor die bolschewistische Armee die Macht übernahm, gelang es ihm aber, den Schädel einem vertrauenswürdigen, verwundeten Soldaten, der zurückverlegt wurde, zu übergeben, mit dem Hinweis, dass ihm eine beträchtliche Belohnung winke, wenn er ihn einem gewissen Professor der Universität Petrograd aushändige. Der betreffende Soldat konnte nach seiner Entlassung aus dem Lazarett jedoch erst im Februar des nächsten Jahres die Universität aufsuchen, und die war zu diesem Zeitpunkt erst einmal geschlossen. Die Studenten übten Revolution, die meisten Professoren waren geflohen oder vertrieben, an eine Öffnung der Universität war nicht zu denken. Er beschloss also, den Schädel erst später zu Geld zu machen, gab die Schachtel mit dem Schädel seinem Schwager zur Aufbewahrung, der in Petrograd eine Sattlerei betrieb, und ging in sein ungefähr dreihundert Kilometer entferntes Heimatdorf zurück. Aus irgendeinem mir unbekannten Grund kam der Mann aber kein zweites Mal nach Petrograd, sodass der Schädel schließlich lange Zeit auf dem Speicher der Sattlerei schlummerte, von allen vergessen.
    Das nächste Mal gelangte er 1935 ans Licht. Petrograd war in Leningrad umbenannt, Lenin war tot, Trotzki vertrieben, die Macht hatte Stalin. In der Stadt bewegte sich kaum noch jemand zu Pferde, der Sattler verkaufte die Hälfte seines Betriebes und richtete im verbliebenen Teil ein kleines Geschäft für Hockey-Bedarfsartikel ein.«
    »Hockey?«, fragte ich. »War in der Sowjetunion der dreißiger Jahre Hockey in Mode?«
    »Was weiß ich? Hier steht das so. Aber das post-revolutionäre Leningrad war ziemlich modern, warum soll man nicht Hockey gespielt haben?«
    »Na, ich weiß nicht«, sagte ich.
    »Jedenfalls räumte der Sattler deswegen seinen Speicher auf und öffnete die Schachtel, die sein Schwager im Jahre 1918 dagelassen hatte. Obenauf lag ein Brief an den bewussten Professor der Universität Petrograd, in dem es hieß, der Überbringer der Schachtel sei angemessen zu entlohnen. Der Sattler machte sich natürlich auf zur Universität – zur Universität Leningrad, versteht sich – und bat um einen Termin bei dem Professor. Der war aber Jude und mit dem Fall Trotzkis nach Sibirien verbannt worden. Der Sattler hatte nun niemanden mehr, der ihn entlohnen würde, sagte sich, dass er, wenn er den Schädel für die Nachwelt aufbewahrte, keinen roten Heller bekäme, suchte sich einen anderen Biologieprofessor, erzählte dem die ganze Geschichte und ließ ihm gegen ein Almosen den Schädel in der Universität.«
    »Immerhin ist der Schädel nach achtzehn Jahren in der Universität angekommen«, sagte ich.
    »Lass mich weitererzählen«, sagte sie. »Der Professor untersuchte den Schädel von oben und unten und vorne und hinten und kam zu demselben Ergebnis wie achtzehn Jahre zuvor der junge Hauptmann – nämlich dass er weder einem Tier einer existenten Gattung noch einem Tier einer Gattung, von der man annehmen konnte, dass sie früher existiert hat, zuzuordnen war. Die Schädelform ähnelte am ehesten der eines Hirsches, der Kiefer ließ darauf schließen, dass es sich um ein pflanzenfressendes Huftier handelte, die Backen mussten etwas voller gewesen sein als beim Hirsch. Der größte Unterschied zum Hirsch bestand allerdings fraglos in dem Horn, das aus der Mitte der Stirnpartie wuchs. Es handelte sich, kurz, um ein Einhorn.«
    »Soll das heißen, das Horn war noch am Schädel?«
    »Ja, das Horn war noch dran. Nicht in seiner ursprünglichen Gestalt natürlich, ein Stumpf nur. Ungefähr drei Zentimeter lang, der Rest war abgebrochen, aber der Stumpf ließ darauf schließen, heißt es, dass das Horn etwa zwanzig Zentimeter lang gewesen sein muss und ganz gerade, wie ein Antilopenhorn. Der Durchmesser an der Basis betrug,

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