Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
warte, zwei Zentimeter.«
»Zwei Zentimeter«, wiederholte ich. Die Delle in dem Schädel, den ich von dem Alten bekommen hatte, maß im Durchmesser genau zwei Zentimeter.
»Perow – so hieß der Professor – machte sich mit ein paar Assistenten und Doktoranden in die Ukraine auf und betrieb einen Monat lang in der Gegend, wo der junge Hauptmann ehedem Schützengräben ausgehoben hatte, Forschungen vor Ort. Auf einen ähnlichen zweiten Schädel stieß er zwar nicht, aber davon abgesehen deckte er einige interessante Tatsachen zu der Region auf. Die Gegend, ein halbhohes Hügelland, wird allgemein Woltafil-Hochland genannt und bildet im Westen der Ukraine inmitten der vielen monotonen Ebenen einen der wenigen natürlichen strategischen Punkte. Im Ersten Weltkrieg lieferten sich deshalb dort die Deutschen und Österreicher mit der russischen Armee einen zähen Kampf um jeden Meter Boden, und im Zweiten Weltkrieg wurden die Hügel von beiden Armeen derart beschossen, dass sich das Hochland topographisch fast verformte – nun ja, das war später. Was die besondere Aufmerksamkeit Professor Perows auf sich zog, war, dass die dort ausgegrabenen Tierknochen und -skelette sich von der ansonsten in der Ukraine heimischen Tierpopulation erheblich unterschieden. Er stellte deshalb die Hypothese auf, dass die Gegend in der Vorzeit kein Hochland gewesen sei, sondern Kratergestalt gehabt habe, in dessen Innerem besondere Formen von Leben existiert hätten. Das, mit einem Wort, was du als Verlorene Welt bezeichnet hast.«
»Ein Krater?«
»Genau. Ein von steilen Felswänden eingeschlossenes, kreisförmiges Hochland. Die Felsen bröckelten in Hunderttausenden von Jahren ab und formten sich zu ganz gewöhnlichen Hügeln. Und mittendrin lebte abgeschieden von der Evolution still und ohne natürliche Feinde das Einhorn. Das Hochland war reich an Quellen und die Erde war fruchtbar, die Hypothese war theoretisch durchaus begründet. Der Professor legte daraufhin der sowjetischen Akademie der Wissenschaften eine Abhandlung vor mit dem Titel Betrachtungen zu Lebensformen im Woltafil-Hochland, mit 63 topographischen Belegen und solchen aus Fauna und Flora sowie dem Einhornschädel. Das war im August des Jahres 1936.«
»Die Kritik war sicher vernichtend«, sagte ich.
»In der Tat. Man nahm ihn kaum ernst. Hinzu kam, dass gerade die Universität Moskau mit der Universität Leningrad eine Auseinandersetzung um die akademische Vormachtstellung ausfocht und Leningrad an Boden verlor, sodass solche so genannten ›a-dialektischen‹ Studien in Grund und Boden gestampft wurden. Die Existenz des Einhornschädels aber konnte niemand ignorieren: Er war keine Hypothese, sondern materiell vorhanden. Also wurde er von einer Reihe von Spezialisten ein Jahr lang untersucht, bis man sich zu dem Schluss durchringen musste, dass es sich nicht um eine Fälschung, sondern unbestreitbar um den Schädelknochen eines einhörnigen Tieres handele. Schließlich verfügte ein Ausschuss der Akademie der Wissenschaften, dass es sich um den Schädel eines missgestalteten Hirsches handele, der evolutionsgeschichtlich nicht von Bedeutung und als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung wertlos sei, und schickte ihn zu Händen Professor Perows an die Universität Leningrad zurück. Das war’s dann.
Professor Perow harrte anschließend darauf, dass der Wind sich drehen und die Zeit kommen möge, in der seine wissenschaftlichen Ergebnisse Anerkennung fänden, aber mit dem deutschen Überfall von 1941 wurde auch diese Hoffnung zunichte gemacht. Perow starb 1943, ein enttäuschter Mann. 1941, während der Schlacht um Leningrad, ging der Schädel dann verloren. Die Universität wurde durch deutschen Beschuss und durch russische Bombardierung in Schutt und Asche gelegt, vom Auffinden eines Tierschädels konnte da nicht die Rede sein. Auf diese Weise wurde das einzige Beweisstück für die Existenz von Einhörnern ausgelöscht.«
»Es gibt also keinerlei Belege mehr?«
»Außer den Fotos, nein.«
»Fotos?«
»Ja, Fotos des Schädels. Professor Perow hat beinahe hundert Aufnahmen von dem Schädel gemacht. Ein paar haben den Krieg überdauert und sollen heute im Archiv der Universität Leningrad liegen. Hier, das ist eine davon.«
Sie reichte mir das Buch, und ich schaute mir das Foto an, auf das sie deutete. Es war ziemlich unscharf, aber die Schädelkonturen waren zu erkennen. Der Schädel lag auf einem mit einem weißen Tuch abgedeckten Tisch, daneben hatte man
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