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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Großvater. Seit Jahren schon hätte er seine Forschungen ganz auf dich ausgerichtet.«
    »Denk nach, erinnere dich!«, sagte ich. »Was könnte zum Beispiel mit ›Zeitbombe‹ gemeint sein?«
    »Zeitbombe?«
    »Das hat der Mann gesagt, der mir den Bauch aufgeschlitzt hat. Die Daten des Professors, die ich verarbeitet hätte, wären eine Art Zeitbombe. Wenn es so weit sei, gingen sie hoch: Bamm! Was zum Teufel meinte der damit?«
    »Mein Großvater – aber das ist nur eine reine Vermutung von mir«, sagte das Mädchen, »mein Großvater hat sich die ganze Zeit mit der Psyche des Menschen beschäftigt. Seit er das Shuffling erfunden hat. Ich glaube, dass alles mit dem Shuffling-System anfing. Bis zur Entwicklung des Shuffling sprach mein Großvater mit mir immer über alles Mögliche. Über seine Studien, an was er gerade arbeitete, was er noch zu bearbeiten vorhatte. Ich verfüge, wie ich eben gesagt habe, über so gut wie kein Fachwissen, aber was mein Großvater erzählte, war immer leicht verständlich und interessant. Diese Unterhaltungen mit ihm habe ich geliebt.«
    »Und nach der Entwicklung des Shuffling-Systems wurde er plötzlich schweigsam, ja?«
    »Ja. Er zog sich in sein unterirdisches Labor zurück und richtete kein fachliches Wort mehr an mich. Wenn ich nachfragte, gab er nur mehr belanglose Antworten.«
    »Und du fühltest dich einsam.«
    »Furchtbar einsam.« Sie sah mich wieder eine Weile an. »Darf ich zu dir ins Bett kommen? Es ist furchtbar kalt.«
    »Meinetwegen – wenn du meine Wunde nicht berührst und dich nicht bewegst«, sagte ich. Offenbar hatten alle Frauen dieser Welt nichts Besseres zu tun, als zu mir ins Bett zu kriechen.
    Sie ging um das Bett herum und kroch, ohne sich ihr rosafarbenes Kostüm auszuziehen, unter die Decke. Ich gab ihr eins von den beiden Kopfkissen, die ich übereinander gelegt benutzt hatte; sie klopfte es bauschig und schob es sich unter den Kopf. Von ihrem Nacken ging der Melonenduft aus, den ich bei unserer ersten Begegnung wahrgenommen hatte. Mit Mühe rollte ich auf die Seite, sodass ich sie anschauen konnte. So lagen wir in meinem Bett, einander zugewandt.
    »So nahe war ich einem Mann noch nie«, sagte das dicke Mädchen.
    »Ach, Gott«, sagte ich.
    »Ich war auch noch nicht oft in der Stadt. Deshalb konnte ich die Verabredung heute Morgen nicht einhalten, ich wusste den Weg nicht. Mitten in deiner Beschreibung fiel der Ton aus.«
    »Warum hast du kein Taxi genommen? Die Adresse hätte genügt.«
    »Ich hatte nicht genug Geld dabei. Ich bin völlig überstürzt aufgebrochen und hatte ganz vergessen, dass man Geld braucht. Deshalb musste ich zu Fuß gehen.«
    »Hast du sonst keine Verwandten?«, fragte ich.
    »Meine Eltern und Geschwister sind bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, als ich sechs war. Ein Lkw fuhr von hinten auf ihren Wagen auf, der Tank fing Feuer, alle sind verbrannt.«
    »Du als Einzige hast überlebt?«
    »Ich lag damals im Krankenhaus, sie waren unterwegs, mich zu besuchen.«
    »Hm«, sagte ich.
    »Von da an lebte ich bei meinem Großvater. Ich ging nicht zur Schule und auch sonst wenig aus, ich hatte keine Freunde …«
    »Du bist nicht zur Schule gegangen?«
    »Nein«, sagte sie, als ob das ganz selbstverständlich sei. »Mein Großvater meinte, das sei nicht notwendig. Er hat mir alles selbst beigebracht. Englisch, Russisch, Anatomie. Kochen und Nähen hat mir meine Tante beigebracht.«
    »Deine Tante?«
    »Die Haushälterin, die bei uns lebte, eine Seele von Mensch. Sie ist vor drei Jahren an Krebs gestorben. Danach lebten mein Großvater und ich allein.«
    »Du bist also nie zur Schule gegangen?«
    »Nein, aber das heißt wirklich nicht viel. Ich kann alles. Ich spreche vier Fremdsprachen, spiele Klavier und Altsaxophon, kann ein Funkgerät zusammenbauen, navigieren und seiltanzen und habe jede Menge Bücher gelesen. Und meine Sandwiches haben dir auch geschmeckt, oder?«
    »Keine Frage«, sagte ich.
    »Schulerziehung heißt dreizehn Jahre lang Hirn abtragen, sagt mein Großvater immer. Er selbst ist auch nur kurz zur Schule gegangen.«
    »Alle Achtung«, sagte ich. »Aber warst du nicht einsam, so ganz ohne gleichaltrige Freunde?«
    »Ach, ich weiß nicht. Ich hatte so viel zu tun. Darüber nachzudenken hatte ich gar keine Zeit. Außerdem hätte ich mich mit Gleichaltrigen kaum vernünftig unterhalten können …«
    »Na ja«, sagte ich. Sie hatte wohl Recht.
    »Aber für dich interessiere ich mich sehr.«
    »Warum?«
    »Du

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