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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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können.
    »Er hat sich schon Sorgen um dich gemacht«, sagt der alte Oberst.
    »Wie geht es ihm?«
    »Er scheint ein bisschen unter der Kälte zu leiden, aber sonst geht’s ihm gut. Noch kein Grund zur Sorge.«

    Gegen Abend des zehnten Tages nach Ausbruch des Fiebers bin ich endlich wieder in der Lage, den Hügel hinabzusteigen und die Bibliothek aufzusuchen.
    Ich drücke die Tür auf. Die Luft im Gebäude kommt mir noch abgestandener vor als sonst, seelenlos. Es fehlt die menschliche Atmosphäre – wie in einem Zimmer, in dem lange niemand mehr gewohnt hat. Der Ofen ist aus, die Kanne längst kalt. Ich nehme den Deckel ab – weißlich trübe Kaffeebrühe. Die Decke kommt mir höher vor als sonst. Das Licht ist aus, kein Laut zu hören; nur meine Schritte hallen seltsam staubig im schummrigen Dämmerlicht. Von der Bibliothekarin keine Spur; auf der Büchertheke liegt eine dünne Staubschicht.
    Mir fällt nichts Besseres ein, als mich auf die Holzbank zu setzen und auf sie zu warten. Die Außentür war nicht verschlossen, demnach müsste sie irgendwann hier auftauchen. Ich warte und warte. Ich zittere am ganzen Leibe vor Kälte und warte. Aber sie kommt nicht. Nur dunkel wird es. Mir ist, als wäre die Welt untergegangen, nur ich und die Bibliothek sind verschont geblieben. Man hat mich ganz allein am Ende der Welt zurückgelassen. Ich kann die Arme noch so ausstrecken – meine Hände bekommen nichts mehr zu fassen.
    Die Schwere des Winters liegt auch auf dem Raum, in dem ich sitze. Die ganze Einrichtung wirkt wie angenagelt. Ich sitze im Dunkeln, meine Gliedmaßen werden schwerelos, machen sich selbständig und scheinen sich von ganz alleine auszudehnen und zusammenzuziehen. Als stünde ich im Spiegelkabinett und spielte mit meinem verzerrten Ebenbild.
    Ich stehe auf und mache Licht. Dann fülle ich den Eimer mit Kohle, schichte sie im Ofen auf, zünde sie mit einem Streichholz an und setze mich wieder auf die Bank. Das Licht macht alles nur noch dunkler, das Feuer im Ofen alles nur noch kälter.

    Ich muss entweder ganz tief in mich versunken gewesen sein, oder die Müdigkeit, die mir noch in den Knochen sitzt, muss mich zu einem kleinen Nickerchen verführt haben – jedenfalls komme ich plötzlich zu mir und merke, dass sie still vor mir steht und auf mich herabsieht. Hinter ihr schüttet die Birne ihr grobes, gelbes Lichtpulver aus; die Gestalt der Bibliothekarin erscheint deshalb dunkel und verschwommen. Ich sehe eine Weile zu ihr auf. Sie trägt wie immer ihren blauen Mantel und hat ihr Haar auf einer Seite nach vorne geschlagen und unter den Mantelaufschlag gesteckt. Sie riecht nach Winterwind.
    »Ich dachte schon, du kommst nicht mehr«, sage ich. »Ich hab hier die ganze Zeit auf dich gewartet.«
    Sie nimmt die Kanne, geht zur Spüle, schüttet den alten Kaffee weg, spült die Kanne aus, füllt frisches Wasser ein und stellt sie auf den Ofen. Dann holt sie ihr Haar unterm Revers hervor, zieht den Mantel aus und hängt ihn auf einen Bügel.
    »Warum dachtest du, dass ich nicht mehr komme?«, sagt sie.
    »Weiß ich nicht«, sage ich. »Nur so ein Gefühl.«
    »Ich komme hierher, solange du mich brauchst. Du brauchst mich doch, oder?«
    Ich nicke. Ja, ich brauche sie, ganz sicher. Da mag, sooft ich sie sehe, das Loch in mir so tief werden, wie es will – ich brauche sie.
    »Ich möchte mit dir über deinen Schatten sprechen«, sage ich. »Vielleicht war es ja dein Schatten, den ich in der alten Welt getroffen habe.«
    »Ja, vielleicht. Daran hab ich auch zuerst gedacht. Als du davon sprachst, ob wir uns nicht schon kennen würden.«
    Sie setzt sich vor den Ofen und sieht eine Weile ins Feuer.
    »Mein Schatten wurde von mir getrennt und vor die Mauer geschickt, als ich vier war. Danach lebte er, vielmehr sie, in der Welt draußen und ich in der Welt hier drinnen. Ich weiß nicht, was sie da gemacht hat. Genauso, wie sie nichts über mich weiß. Als ich siebzehn war, kam sie in die Stadt zurück und starb dann hier. Alle Schatten kommen hierher zurück, um zu sterben. Der Wächter hat sie im Apfelwäldchen begraben.«
    »Und damit wurdest du ordentlicher Bürger der Stadt, nicht wahr?«
    »Ja. Mit dem Schatten wurde auch der Rest meiner Seele begraben. Du hast zwar gesagt, die Seele ist so etwas wie der Wind, aber sind es nicht eher wir, die dem Wind ähneln? Wir sind es, die einfach weiter unseren Weg gehen, ohne uns Gedanken zu machen. Wir werden nicht älter, und wir können nicht sterben.«
    »Hast du

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