Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
Mensch ja zu allen möglichen Anstrengungen bereit. Aber ich komme einfach nicht vom Fleck.
»Ich weiß nicht, was die Träume eigentlich bedeuten sollen«, sage ich zu der Bibliothekarin. »Du hast irgendwann mal gesagt, es sei meine Aufgabe, aus Schädeln alte Träume zu lesen. Aber von diesen Träumen bleibt nichts bei mir hängen, sie gehen einfach durch mich durch. Nicht einen davon begreife ich, und je mehr ich lese, desto stärker wird das Gefühl, ich selbst würde dabei nur verbraucht, verschlissen.«
»Und doch liest du wie besessen weiter! Warum denn?«
»Weiß ich nicht«, sage ich und schüttele den Kopf. Zum Teil stürze ich mich sicher deshalb in die Arbeit, um das immer größer werdende Loch in mir zuzuschütten. Aber ich weiß nur zu gut, dass dies nicht der einzige Grund sein kann.Was sie gesagt hat, stimmt schon: Ich lese, als sei ich von irgendetwas besessen.
»Das Problem liegt bei dir, glaube ich«, sagt sie.
»Bei mir?«
»Ja. Ich glaube, du musst deine Seele weiter öffnen. Ich verstehe zwar nichts von der Seele, aber deine scheint mir fest verschlossen zu sein. Du sollst die alten Träume genauso sehr lesen wollen, wie sie von dir gelesen werden wollen.«
»Warum glaubst du das?«
»Weil das den Traumleser ausmacht. Genau wie Vögel sich in der entsprechenden Jahreszeit nach Süden oder Norden aufmachen, muss der Traumleser fortfahren, alte Träume zu lesen.«
Sie streckt ihre Hand über den Tisch, legt sie auf meine. Und lächelt. Ihr Lächeln strahlt mich an wie die sanfte Frühlingssonne, die zwischen Wolken hervorflutet.
»Mach deine Seele weit auf! Du bist kein Gefangener. Du bist ein Vogel am Himmel, auf der Suche nach Träumen.«
Mir bleibt schließlich nichts anderes übrig, als mich jedes einzelnen Traumes mit größter Sorgfalt anzunehmen. Ich nehme also aus den endlosen Schädelreihen auf den Regalen einen in die Hand und trage ihn vorsichtig zum Tisch, wie ein Baby. Mit Hilfe der Bibliothekarin entferne ich sodann Staub und Schmutz mit einem leicht angefeuchteten Lappen, um den Schädel als Nächstes mit einem trockenen Tuch blank zu polieren, ausdauernd und gründlich. Bis er weiß strahlt wie frisch gefallener Schnee. Der Kontrast von Licht und Schatten lässt die weit offen stehenden Augenhöhlen an der Vorderseite nun wie ein Paar unergründlich tiefe Brunnen aussehen.
Ich lege sachte die Hände auf den Schädel und warte darauf, dass er auf meine Körperwärme reagiert und schwach zu strahlen beginnt. Sobald er eine gewisse Temperatur erreicht hat – keine große Hitze, ungefähr so lauwarm wie ein sonnenbeschienenes Plätzchen an einem Wintertag –, beginnt der blank polierte Schädel, die in ihm verewigten alten Träume zu erzählen. Ich schließe die Augen, atme tief durch, öffne meine Seele und verfolge mit den Fingerspitzen die Geschichten, die sie erzählen. Aber ihre Stimmchen sind so dünn, dass die zutage tretenden Bilder weiß vernebelt wirken wie Sterne, die weit, weit weg am Morgenhimmel stehen. Mehr als ein paar undefinierbare Bruchstücke kann ich nicht herauslesen, und sosehr ich auch versuche, diese Fragmente miteinander zu verbinden – ein Gesamtbild bekomme ich nicht zu fassen.
Ich blicke in Landschaften, die ich nie gesehen habe, Musik ertönt, die ich nie gehört habe, es werden Worte geflüstert, die ich nicht verstehen kann. Das alles tritt ganz plötzlich in Erscheinung und versinkt ebenso plötzlich wieder in tiefste Dunkelheit. Zwischen dem einen und dem nächsten Fragment scheint es keinerlei Zusammenhang zu geben. Als stellte man ein Radio blitzschnell von einem Sender auf den nächsten und wieder auf den nächsten ein. Ich versuche alles Mögliche, um mich stärker auf meine Fingerspitzen zu konzentrieren, doch es bleibt wie gehabt, da kann ich mich noch so abmühen. Ich merke sehr wohl, dass die alten Träume mir irgendetwas zu erzählen versuchen, aber ich bin einfach nicht imstande, es als zusammenhängende Geschichte abzulesen.
Das mag an einem Lesefehler meinerseits liegen. Oder daran, dass ihre Sprache sich über die Jahre abgenutzt hat und verwittert ist. Oder aber daran, dass zwischen den von ihnen und den von mir gedachten Erzählungen entscheidende zeitliche und kontextuelle Unterschiede bestehen.
Wie auch immer – mir bleibt nichts anderes übrig, als den auftauchenden und wieder verschwindenden heterogenen Fragmenten sprachlos hinterherzustarren. Natürlich kommen mitunter auch Bilder oder Eindrücke vor, die mir
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