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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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einmal ein winziger Rest übrig geblieben sein sollte – die Mauer hätte längst alles eingezogen. Und falls sie das nicht geschafft hätte, hätte sie die Kleine in die Verbannung geschickt. Wie das ihrer Mutter offensichtlich passiert ist.«
    »Das heißt, ich soll mir keinerlei Hoffnungen machen, nicht wahr?«
    »Ich will nur nicht, dass du enttäuscht wirst. Die Stadt ist stark, du bist schwach. Das solltest du mittlerweile begriffen haben.«
    Der Alte starrt eine Zeit lang angestrengt auf die leere Tasse in seiner Hand.
    »Aber du kannst die Kleine haben.«
    »Haben?«, frage ich.
    »Ja. Du kannst mit ihr schlafen, du kannst auch mit ihr leben. In dieser Stadt kannst du alles haben, was du willst.«
    »Nur keine Seele, nicht wahr?«
    »So ist es. Seelen gibt es nicht«, sagt der Alte. »Bald wird auch deine verschwinden. Und wenn sie erst weg ist, vergeht auch das Gefühl von Verlust und Verzweiflung. Liebe, die nirgendwo hin kann, vergeht. Nur das Leben bleibt. Ein stilles, ruhiges Leben. Du hast die Kleine gern, sie dich anscheinend auch. Wenn du das willst, gehört es dir schon. Niemand kann es dir nehmen.«
    »Mir kommt das alles seltsam vor«, sage ich. »Ich besitze zwar meine Seele noch, trotzdem verliere ich sie manchmal aus den Augen. Nein, umgekehrt: Dass ich sie gerade nicht aus den Augen verloren habe, kommt eher seltener vor. Und trotzdem habe ich die unbestimmte Gewissheit, dass sie irgendwann zurückkommt, und diese Gewissheit hält mich beieinander, gibt mir Rückhalt. Deshalb kann ich mir gar nicht vorstellen, was es eigentlich heißt, seine Seele zu verlieren.«
    Der Alte nickt ein paar Mal still. »Du bist ein kluger Kopf. Zeit zum Nachdenken bleibt dir noch genug.«
    »Ich werde sie nutzen«, sage ich.

    An den Tagen darauf lässt die Sonne sich nicht blicken. Als das Fieber abgeklungen ist, stehe ich auf, öffne das Fenster und atme die frische Luft. Doch mein Körper bleibt noch ungefähr zwei Tage so kraftlos, dass ich mich weder am Treppengeländer festhalten noch die Türknäufe drehen kann. Jeden Abend verabreicht der Oberst mir seine bittere Heilkräutersuppe und kocht mir eine Art Reisbrei. Dann setzt er sich an mein Bett und erzählt mir alte Kriegsgeschichten. Die Themen »Bibliothekarin« und »Mauer« berührt er nicht mehr, und ich wage auch nicht, danach zu fragen. Wenn er mir mehr mitzuteilen hätte, hätte er es längst getan.
    Am dritten Tag bin ich wieder so weit auf den Beinen, dass ich mir den Stock des Alten leihen und im Beamtenviertel langsam umherspazieren kann. Beim Laufen fällt mir auf, dass mein Körper schrecklich leicht geworden ist. Durch das Fieber habe ich vermutlich Gewicht verloren, doch das erklärt nicht alles. Allem um mich herum verleiht der Winter eine eigenartige Schwere, nur mir nicht. Ich allein bin davon ausgeschlossen.
    Von der Böschung des Westhügels aus kann ich die halbe Stadt überblicken. Ich sehe den Fluss, den Uhrturm, die Mauer, und ganz weit hinten kann ich verschwommen das Westtor erkennen. Durch die dunkle Brille hindurch Details wahrzunehmen, sind meine Augen zu schwach, und doch merke ich, dass die Winterluft der Stadt klare Konturen verleiht, klarer als je zuvor. Als ob der Wintermonsun aus den nördlichen Bergen jeden Winkel ausgefegt und den Staub von den matten Farben geblasen hätte.
    Da fällt mir die Karte ein, die ich dem Schatten geben muss. Den vereinbarten Termin habe ich wegen der Krankheit schon um beinahe eine Woche überschritten. Der Schatten macht sich sicher Sorgen um mich – oder er denkt, ich hätte ihn im Stich gelassen. Womöglich hat er schon aufgegeben. Mir wird ganz traurig zumute.
    Der Oberst hat mir ein Paar alte Arbeitsstiefel überlassen. Ich löse eine Sohle heraus, falte die Karte ganz klein, stecke sie in den Schuh und lege die Sohle wieder ein. Ich bin überzeugt, der Schatten wird die Schuhe vollkommen auseinander nehmen, um die Karte zu finden. Dann gehe ich mit den Stiefeln zum Alten und frage ihn, ob er nicht für mich den Schatten besuchen und ihm die Stiefel persönlich überbringen könnte.
    »Er hat bloß ein Paar dünne Turnschuhe an. Ihm werden die Füße erfrieren, wenn es weiter schneit«, sage ich. »Dem Wächter traue ich nicht. Aber Sie, Sie können den Schatten doch ohne weiteres aufsuchen.«
    »Wenn’s weiter nichts ist – geht in Ordnung«, sagt der Alte und nimmt die Stiefel entgegen.
    Gegen Abend kommt er zurück und sagt, er habe dem Schatten die Schuhe persönlich übergeben

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