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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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wirkst erschöpft, und doch scheint deine Erschöpfung eine Art Energiequelle zu sein. Das ist mir unbegreiflich. Ich kenne sonst niemanden, der so ist. Mein Großvater ist nie erschöpft, ich auch nicht. Sag mal, bist du wirklich erschöpft?«
    »Bis auf die Knochen«, sagte ich. Ich hätte es zwanzigmal wiederholen mögen.
    »Wie ist das, erschöpft zu sein?«, fragte sie.
    »Die Gefühlszonen verschwimmen – das Mitleid mit sich selbst und der Zorn gegen andere, das Mitleid mit anderen und der Zorn gegen sich selbst. So in der Art.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Ganz zuletzt versteht man gar nichts mehr. Wie bei einem bunten Kreisel, verstehst du? Je schneller er sich dreht, desto schwieriger sind die Farben auseinander zu halten. Am Ende herrscht Chaos.«
    »Das hört sich interessant an«, sagte das dicke Mädchen. »Du weißt über solche Dinge sehr gut Bescheid, nicht wahr?«
    »Ja«, sagte ich. Erschöpfungszustände, die einem das Leben wegfressen, oder solche, die mitten aus dem Leben heraus wie Blasen aufsteigen, hätte ich auf hunderterlei Weise erläutern können. Auch so etwas lernt man nicht in der Schule.
    »Kannst du Altsaxophon spielen?«, fragte das Mädchen.
    »Nein«, sagte ich.
    »Hast du Platten von Charlie Parker?«
    »Ich glaube, ja, aber in dem Tohuwabohu werden sie kaum zu finden sein. Außerdem ist die Stereoanlage kaputt, wir könnten sie uns sowieso nicht anhören.«
    »Spielst du irgendein Instrument?«
    »Nein, keins«, sagte ich.
    »Darf ich dich anfassen?«
    »Nein«, sagte ich. »Je nachdem, wo, beginnt die Wunde höllisch weh zu tun.«
    »Wenn sie verheilt ist, darf ich dich dann anfassen?«
    »Ja, das heißt, wenn die Welt dann noch steht. Aber lass uns lieber das Wesentliche besprechen. Wir sind dabei stehen geblieben, dass dein Großvater sich nach der Entwicklung des Shuffling-Systems verändert hat, ja?«
    »Ja, genau. Er war wie ausgewechselt. Er redete kaum noch mit mir, wurde launisch und führte dauernd Selbstgespräche.«
    »Weißt du noch, wie dein Großvater sich zum Shuffling geäußert hat?«
    Das dicke Mädchen überlegte eine Weile. Dabei spielte es mit seinem goldenen Ohrring. »Er sagte, das Shuffling sei das Tor zu einer neuen Welt. Ursprünglich hatte er es als Hilfsprogramm zur Umstrukturierung einzugebender Computerdaten entwickelt, aber richtig angewandt hätte es die Power, sagte er, die ganze Welt umzustrukturieren. So wie die Kernphysik die Atombombe hervorgebracht hat.«
    »Das Shuffling ist also das Tor zu einer neuen Welt, und ich bin der Schlüssel zu dem Tor, ja?«
    »Darauf läuft es wohl hinaus.«
    Ich trommelte mit den Nägeln gegen die Zähne. Ich hätte gern einen doppelten Whiskey mit Eis getrunken, aber bei mir zu Hause waren Eis und Whiskey Mangelware.
    »Könnte es sein, dass dein Großvater die Welt untergehen lassen möchte?«
    »Nein. Nie und nimmer. Mein Großvater ist ein Misanthrop, ist launisch und eigensinnig, ja, aber in Wahrheit ist er ein guter Mensch. So wie du und ich.«
    »Vielen Dank«, sagte ich. Das hatte mir noch niemand gesagt.
    »Mein Großvater hatte immer Angst, dass seine Forschungsergebnisse in die falschen Hände geraten und Schindluder damit getrieben werden könnte. Er selbst würde sie nie zu bösen Zwecken einsetzen. Beim System hat er aufgehört, weil er glaubte, dass man genau das früher oder später dort tun würde. Deshalb hat er sich zurückgezogen und allein weitergeforscht.«
    »Das System steht aber doch auf der guten Seite. Es leistet den Semioten Widerstand, die Computerdaten stehlen und sie auf dem Schwarzmarkt verhökern, und es schützt das Datencopyright.«
    Das dicke Mädchen sah mich prüfend an und zuckte dann die Achseln. »Als Frage von Gut und Böse hat mein Großvater das nie gesehen. Gut und Böse seien fundamentale Wesenszüge des Menschen, das Copyright ein ganz anderes Problem.«
    »Nun ja, da hat er nicht Unrecht«, sagte ich.
    »Jeder Art von Macht steht mein Großvater misstrauisch gegenüber. Zeitweise hat er zwar dem System angehört, aber nur, weil man ihm dort reiches Daten- und Experimentiermaterial und freie Verfügung über einen Großcomputer bot, auf dem man Simulationsmodelle fahren konnte. Wenn das komplexe Shuffling-System erst fertig sei, würde er, sagte er immer, allein weiterforschen, das sei einfacher und effizienter. Der Rest sei nur noch so genannte Kopfarbeit, die Infrastruktur des Systems brauche er dann nicht mehr.«
    »Aha«, sagte ich. »Hat dein Großvater,

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