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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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gereicht.
    Vorsichtig, um die Wunde nicht zu reizen, stieg ich in meine Jeans, zog ein Sporthemd über mein T-Shirt und darüber einen dünnen Pullover. Danach holte ich vorsichtshalber noch meine Bergsteigerjacke, einen Nylonblouson, aus dem Schrank. Das rosafarbene Kostüm der Kleinen war für einen unterirdischen Suchgang ohne Frage höchst ungeeignet, aber ein Hemd und eine Hose, die ihr gepasst hätten, befanden sich unter meiner Garderobe leider nicht. Ich war zehn Zentimeter größer als sie und bestimmt zehn Kilo leichter. Am besten wäre, irgendwo für sie bequeme Kleidung zu kaufen, aber jetzt mitten in der Nacht hatten alle Geschäfte zu. Eine von der US-Army ausgemusterte dicke Kampfjacke, die ich früher getragen hatte, passte ihr gerade so; die gab ich ihr. Ein Problem waren ihre Stöckelschuhe; sie meinte aber, dass im Büro Joggingschuhe und Gummistiefel stünden.
    »Rosa Joggingschuhe und rosa Gummistiefel«, sagte sie.
    »Ist Rosa deine Lieblingsfarbe?«
    »Die meines Großvaters. Rosa stünde mir, sagt er.«
    »Es steht dir auch«, sagte ich. Das war keine Lüge. Es stand ihr wirklich. Dicke Frauen sehen in rosafarbener Kleidung meistens wie riesige Erdbeertorten aus, aber bei ihr wirkte die Farbe merkwürdig harmonisch.
    »Und außerdem mag dein Großvater bei Mädchen eine gewisse Fülle, nicht wahr?«, fragte ich gleich noch nach.
    »Klar«, sagte das rosafarbene Mädchen. »Deshalb achte ich immer darauf, schön dick zu bleiben. Ich esse viel Butter und Sahne, sonst nehme ich im Handumdrehen ab.«
    »Aha«, sagte ich.
    Ich schob den Wandschrank auf, nahm meinen Rucksack heraus, vergewisserte mich, dass er unbeschädigt war, und packte dann unsere beiden Jacken ein, dazu Taschenlampe, Kompass, Handschuhe, Handtücher, ein großes Messer, ein Feuerzeug, ein Seil und Zündwürfel. Dann ging ich in die Küche und las vom Boden zwei Packungen Brot und ein paar Konservendosen auf, Corned Beef, Pfirsiche, Würstchen, Pampelmusen, und steckte alles in den Rucksack. Die Thermosflasche füllte ich mit Wasser. Anschließend steckte ich mir alles Bargeld, das ich im Haus hatte, in die Hosentasche.
    »Wie bei einem Picknick«, sagte das Mädchen.
    »Wie bei einem Picknick«, sagte ich.
    Bevor wir aufbrachen, schaute ich mich noch einmal um. Meine Wohnung bot das Bild einer Müllkippe. Es ist immer dasselbe im Leben. Der Aufbau braucht Zeit, doch für die Zerstörung genügt ein Augenblick. In diesen drei kleinen Zimmern hatte ich gelebt, bisweilen müde und ausgelaugt, aber doch auf meine Weise zufrieden. Das alles hatte sich aufgelöst wie Morgendunst, in einer Geschwindigkeit, die man braucht, um zwei Dosen Bier zu leeren. Meine Arbeit, mein Whiskey, meine Ruhe, meine Einsamkeit, meine John-Ford-Sammlung – alles, alles war Müll geworden.
    Der Blumen Pracht, der Wiesen Glanz, zitierte ich im Geiste. Dann langte ich zum Sicherungskasten am Eingang und legte, um den Strom abzustellen, den Hauptschalter um.

    Zu ernsthaftem Nachdenken schmerzte die Wunde zu sehr, und da ich außerdem viel zu erschöpft war, beschloss ich, mir gar keine Gedanken mehr zu machen. Das war allemal besser, als halbgares Zeug auszuhecken. Also fuhr ich unerschrocken mit dem Aufzug in die Tiefgarage, schloss den Wagen auf und warf unser Gepäck in den Fond. Wenn jemand Wache stand, bitte, sollte er Wache stehen, wenn er uns folgen wollte, sollte er meinetwegen folgen. Das war mir schon alles einerlei. Vor wem, bitte schön, hatte ich mich denn in Acht zu nehmen? Vor den Semioten? Vor dem System ? Vor den beiden Messertypen? Drei Gegner auf einmal zu düpieren wäre zwar nicht unbedingt unmöglich, aber in meinem jetzigen Zustand war es mir einfach zu viel. Es mit einem sechs Zentimeter langen Schlitz im Bauch in der unterirdischen Finsternis mit den Schwärzlingen aufzunehmen, völlig übernächtigt und das dicke Mädchen im Schlepptau, das reichte mir. Wenn die anderen zuschlagen wollten: Bitte sehr, nur zu.
    Da ich nach Möglichkeit nicht selbst steuern wollte, fragte ich die Kleine, ob sie fahren könne. Sie verneinte.
    »Tut mir leid. Ich kann nur reiten.«
    »Macht nichts«, sagte ich. »Die Notwendigkeit zu reiten ergibt sich vielleicht auch noch.«
    Nach einem Blick auf die Tankuhr, die Nadel stand noch fast auf Voll, fuhr ich den Wagen aus der Garage. Dann durch die verwinkelten Gassen der Wohngegend auf eine große Durchgangsstraße. Trotz der späten Stunde herrschte reger Verkehr. Etwa die Hälfte der Autos waren Taxis,

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