Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
sich der Aufzug in einer Geschwindigkeit, dass man nicht wusste, ob es nach oben oder nach unten ging. Es dauerte wieder elend lange; und das Wissen, die ganze Zeit per Monitor überwacht zu werden, machte mich nervös.
»Um zur Spitzenklasse vorzustoßen, sei die Schulausbildung einfach zu ineffizient, sagt mein Großvater. Was meinst du?«, fragte sie mich.
»Kann sein, wahrscheinlich hat er Recht«, sagte ich. »Ich war sechzehn Jahre auf der Schule und der Uni, aber besonders viel gebracht hat es mir nicht. Ich spreche keine Fremdsprache, spiele kein Instrument, verstehe nichts von Aktien, und Reiten kann ich auch nicht.«
»Warum bist du denn nicht abgegangen? Abgehen kann man doch immer!«
»Das schon«, sagte ich und dachte ein wenig darüber nach. Das stimmte wohl, abgehen hätte ich jederzeit gekonnt. »An so etwas habe ich damals überhaupt nie gedacht. Meine Familie war anders als deine, stinknormal und mittelmäßig; dass ich womöglich auf irgendeinem Gebiet Spitzenleistungen vollbringen könnte, daran hab ich nicht mal im Traum gedacht.«
»Das war ein Fehler«, sagte das Mädchen. »Die Veranlagung, irgendwo Spitze zu sein, hat jeder Mensch. Nur weil Leute daherkommen, die diese Veranlagung nicht fördern, sondern unterdrücken, schaffen es die meisten nicht.«
»Wie ich«, sagte ich.
»Nein, du bist anders. Du hast, scheint mir, etwas Besonderes. Deine Gefühlsschale ist überaus hart, darunter aber ist vieles roh und unverletzt geblieben.«
»Meine Gefühlsschale?«
»Klar. Deshalb ist es noch nicht zu spät. Wenn wir das hier hinter uns haben, wollen wir dann nicht zusammenleben? Ich meine nicht heiraten oder so, einfach nur zusammenleben. Wir gehen nach Griechenland oder Rumänien oder Finnland, irgendwohin, wo es nicht so hektisch zugeht, und reiten zusammen aus und singen Lieder. Geld habe ich genug, und mit der Zeit wirst du ein Spitzenklassenmensch.«
»Ich weiß nicht«, sagte ich.
Als wir ausstiegen, ging sie wie beim ersten Mal schnellen Schrittes den Korridor entlang voran, und ihre Absätze klapperten. Vor meinen Augen wackelte ihr wohlgeformter Hintern hin und her, und ihre Goldohrringe funkelten.
»Aber gesetzt den Fall, wir würden das so machen«, sagte ich von hinten, »dann bekäme ich alles Mögliche von dir, aber du nichts von mir. Das wäre, scheint mir, ziemlich ungerecht und unnatürlich.«
Sie verlangsamte ihre Schritte, sodass wir gleichauf gingen. »Es gibt bestimmt etwas, das du mir geben könntest«, sagte sie.
»Zum Beispiel?«, fragte ich.
»Zum Beispiel – deine Gefühlsschale. Darüber möchte ich gerne mehr wissen. Woraus sie gemacht ist, wie sie funktioniert und so. So etwas ist mir bisher noch kaum untergekommen, es interessiert mich brennend.«
»Das ist nun wirklich keine große Sache«, sagte ich. »Jeder versteckt seine Gefühle unter einer mehr oder weniger dicken Schale. Du begreifst die ganz gewöhnliche Seele eines ganz gewöhnlichen Menschen nur deshalb nicht, weil du nichts von der Welt gesehen hast.«
»Du hast tatsächlich keine Ahnung, nicht wahr?«, sagte das dicke Mädchen. »Du kannst doch shuffeln, oder?«
»Schon. Aber das ist eine antrainierte Fähigkeit. Kein großer Unterschied zu der, mit dem Abakus umgehen oder Klavierspielen zu können.«
»Das kann man so nicht sagen«, sagte das Mädchen. »Gewiss, am Anfang dachten das alle. Sofern man nur das richtige Training erhalte, könne ausnahmslos jeder – das heißt jeder, der die entsprechenden Tests bestanden hat – das Shuffling beherrschen lernen. Mein Großvater dachte das auch. Tatsächlich haben sich weitere fünfundzwanzig Probanden der gleichen Operation wie du unterzogen, das gleiche Training mitgemacht und shuffeln gelernt. Bis dahin ging auch alles glatt. Die Probleme kamen erst danach.«
»Das hör ich zum ersten Mal«, sagte ich. »Mir hat man gesagt, alles verlaufe wie geplant …«
»Das war die offizielle Version. In Wahrheit war es anders. Fünfundzwanzig der sechsundzwanzig Kandidaten, die das Shuffling gemeistert hatten, sind ein oder eineinhalb Jahre nach Beendigung des Trainingsprogramms gestorben. Du bist der Einzige, der länger als drei Jahre überlebt hat und weiterhin problemlos und ohne Behinderung shuffeln kann. Glaubst du immer noch, ein ganz gewöhnlicher Mensch zu sein? Du bist jetzt eine extrem wichtige Person!«
Ich ging eine Weile schweigend den Korridor entlang, die Hände in den Hosentaschen. Die Sache war weit über mich
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