Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
vertraut und ganz selbstverständlich sind. Zum Beispiel so Alltägliches wie im Wind zitterndes grünes Gras, am Himmel vorüberziehende weiße Wolken oder auf dem Wasser glitzernde Sonnenstrahlen. Aber gerade diese nichtssagenden Bilder erfüllen meine Seele mit einer mysteriösen, schwer in Worte zu fassenden Traurigkeit. Wo in diesen Bildern Elemente verborgen liegen könnten, die Traurigkeit hervorrufen, ist mir vollkommen rätselhaft. Wie Schiffe, die draußen am Fenster vorüberfahren, tauchen die Bilder auf und verschwinden wieder, spurlos, einfach so.
Nach knapp zehn Minuten zieht sich die Wärme zurück wie das Meer bei Ebbe, und vor mir steht wieder der kalte, weiße Tierschädel. Die alten Träume sind wieder in ihren langen, tiefen Schlaf gesunken. Und alles Gesehene rinnt mir wie Wasser zwischen den Fingern zu Boden. – So sieht sie aus, meine Arbeit als »Traumleser«, Schädel um Schädel, ohne Ende.
Sobald der Schädel völlig kalt ist, reiche ich ihn der Bibliothekarin, und sie stellt ihn dann auf die Theke zu den anderen. Unterdes lege ich die Hände auf den Tisch, lockere meine Gliedmaßen und entspanne mich. An einem Abend schaffe ich höchstens fünf bis sechs Träume. Überschreite ich diese Zahl, lässt meine Konzentration nach, und meine Fingerspitzen sind allenfalls noch imstande, das Ganze als winzigen, undifferenzierten Tumult zu bemerken. Wenn der Zeiger der Standuhr die Elf erreicht hat, bin ich meist total ausgelaugt, so erschöpft, dass ich nicht einmal mehr aufstehen kann.
Die Bibliothekarin brüht mir dann immer frischen Kaffee auf, und manchmal hat sie frisch gebackene Plätzchen oder Früchtebrot von zu Hause mitgebracht – als Betthupferl sozusagen. Meistens sitzen wir uns schweigend gegenüber, trinken unseren Kaffee und essen das Gebäck. Ich bin immer eine Weile viel zu ausgelaugt, um mich unterhalten zu können; sie versteht das und schweigt aus Sympathie mit.
»Ob es vielleicht meine Schuld ist, dass deine Seele sich nicht öffnet?«, fragt sie mich. »Vielleicht verschließt sich deine Seele so fest, weil ich deine Gefühle nicht erwidern kann?«
Wir sitzen wie immer auf der Treppe, die von der Mitte der Alten Brücke aus zur Sandbank hinunterführt, und schauen auf den Fluss. Auf dem Wasser schwimmt in kleinen Splittern der eisig weiße Mond. Das schmale Holzboot, das jemand an den Steg der Sandbank gebunden hat, verändert leicht den Klang des Wassers. Da wir auf der schmalen Stufe nebeneinander sitzen, spüre ich die ganze Zeit an meiner Schulter die Wärme ihres Körpers. Seltsam, denke ich. Die Menschen setzen die Seele mit Wärme gleich. Aber Körperwärme und Seelenwärme haben nichts miteinander zu tun.
»Nein, nein«, sage ich. »Dass meine Seele sich nicht öffnet, ist ganz allein mein Problem. Das ist nicht deine Schuld. Ich kann meine Seele nicht durchschauen, und das verwirrt mich.«
»Du verstehst also auch nicht, was es mit der Seele auf sich hat?«
»Kommt ganz darauf an«, sage ich. »Manchmal versteht man erst lange Zeit später, was los war, und dann ist es oft schon viel zu spät. Aber in den meisten Fällen müssen wir tatsächlich Entscheidungen treffen, ohne unsere Seele verstehen zu können, und das verwirrt jeden von uns.«
»Die Seele scheint eine ziemlich unvollkommene Angelegenheit zu sein«, sagt sie mit einem Lächeln.
Ich ziehe meine Hände aus den Taschen und betrachte sie. Im Mondschein sehen sie aus wie weiß getüncht, wie ein Paar vollendete Statuen, die ihren Platz auf dieser Welt verloren haben.
»Ja, das scheint mir auch so. Sehr unvollkommen«, sage ich. »Aber sie hinterlässt Spuren. Und diesen Spuren können wir folgen. Wie Fußabdrücken im Schnee.«
»Und wohin führen sie?«
»Zu uns selbst«, antworte ich. »So ist das mit der Seele. Ohne sie führt nichts irgendwohin.«
Ich sehe zum Himmel auf. Über der von der hohen Mauer eingeschlossenen Stadt steht der Wintermond und leuchtet viel zu hell. »Nein, nichts davon ist deine Schuld«, sage ich.
19 HARD-BOILED WONDERLAND
HAMBURGER, DIE FRIST
Zunächst nahmen wir uns vor, irgendwo etwas zu essen. Viel Appetit hatte ich zwar nicht, aber wer wusste, wann wir das nächste Mal etwas bekommen würden; ein Happen auf Vorrat schien eine gute Idee. Einen Hamburger und ein Bier würde ich schon irgendwie herunterkriegen. Das Mädchen sagte, sie hätte schrecklichen Hunger, da sie zu Mittag nur eine Tafel Schokolade gegessen hätte. Für mehr hätte ihr Geld nicht
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