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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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hockte sich hin, hob den Deckel einer Steckdose an, betätigte einen darin befindlichen Schalter, stand wieder auf und drückte mit der flachen Hand sachte auf eine Stelle an der Wand. Es entstand eine telefonbuchgroße Öffnung, in der eine Art Safe zum Vorschein kam.
    »Ist das nicht gut getarnt?«, sagte das Mädchen stolz. Dann glich es viermal Zahlen ab und öffnete den Safe. »Würdest du bitte die Sachen auf den Schreibtisch legen?«
    Mit zusammengebissenen Zähnen wuchtete ich den umgestürzten Schreibtisch hoch und räumte dann den Safe aus. Er enthielt ein mit einem Gummiband zusammengehaltenes, fünf Zentimeter dickes Bündel Sparbücher, Aktien und Dokumente, zwei oder drei Millionen Yen Bargeld, ein schweres Stoffsäckchen, ein schwarzledernes Notizbuch, einen braunen Umschlag. Das Mädchen entleerte den Umschlag auf die Tischplatte. Zum Vorschein kamen eine alte Omega-Armbanduhr und ein goldener Ring. Die Omega war schwarz verfärbt und das Glas völlig zersplittert.
    »Sie gehörte meinem Vater«, sagte das Mädchen. »Der Ring meiner Mutter. Der Rest ist verbrannt.«
    Ich nickte; die Kleine steckte die Uhr und den Ring wieder in den Umschlag, griff sich ein Bündel Geldscheine und steckte es in eine Tasche ihres Kostüms. »Dass hier auch Geld liegt, hatte ich vollkommen vergessen.« Dann machte sie das Stoffsäckchen auf und zog ein in ein altes Unterhemd geschlagenes Bündel heraus; sie wickelte es auf und zeigte es mir. Es war eine kleine Automatikpistole. Altertümlich zwar, aber eindeutig kein Spielzeugmodell, sondern eine echte Pistole, mit der man echte Kugeln verschoss. Wahrscheinlich eine Browning oder eine Beretta, auch wenn ich mich mit Pistolen nicht besonders auskenne. Ich kannte das Modell aus Filmen. Zur Pistole gehörten ein Ersatzmagazin und eine Schachtel Patronen.
    »Schießt du gut?«, fragte das Mädchen.
    »Wo denkst du hin?«, sagte ich erschrocken. »Ich hab noch nie eine Pistole in der Hand gehabt.«
    »Ich schieße gut. Ich übe schon seit Jahren. Wenn wir nach Hokkaido fahren, in unser Ferienhaus, übe ich allein in den Bergen. Auf zehn Meter Entfernung treffe ich ein postkartengroßes Ziel. Toll, was?«
    »Toll«, sagte ich. »Wie seid ihr an die Waffe gekommen?«
    »Du bist wirklich dumm«, sagte die Kleine resigniert. »Für Geld kann man alles haben. Wusstest du das nicht? Jedenfalls, wenn du nicht schießen kannst, nehm ich die Pistole. Okay?«
    »Bitte sehr. Aber schieß im Dunkeln nicht aus Versehen mich über den Haufen. Noch eine Wunde verkrafte ich nicht.«
    »Keine Sorge. Ich bin ein sehr vorsichtiger Mensch«, sagte sie und steckte sich die Pistole in die rechte Jackentasche. Merkwürdigerweise beulten ihre Kostümtaschen, wie viel sie auch hineinsteckte, nicht aus, sie verloren auch nicht ihre Form. Irgendein Trick vielleicht. Vielleicht auch nur ein guter Schnitt.
    Als Nächstes schlug das Mädchen das schwarzlederne Notizbuch auf, irgendwo in der Mitte, und starrte unter dem Licht lange und ernsthaft auf die Seiten. Ich warf einen flüchtigen Blick darauf, sah aber nur unverständliche Zahlen- und Buchstabenkolonnen, nichts, was unmittelbar Sinn gemacht hätte.
    »Das ist das Notizbuch meines Großvaters«, sagte das Mädchen. »Es ist in einem Kode geschrieben, den nur mein Großvater und ich verstehen. Darin steht, was er an einem Tag vorhatte oder was vorgefallen ist. Wenn mir etwas zustößt, lies das Notizbuch, hat er immer gesagt. Hmm, warte. Am 29. September hast du die Daten gewaschen, nicht wahr?«
    »Korrekt«, sagte ich.
    »Dort steht eine 1. Der erste Schritt, wahrscheinlich. Und am späten Abend des 30. oder am frühen Morgen des 1. Oktober hast du das Shuffling beendet. Stimmt das?«
    »Ja.«
    »Das ist 2. Der zweite Schritt. Danach, warte, der 2. Oktober, zwölf Uhr mittags. Das ist 3. Dort steht ›Löschung des Programms‹.«
    »Um zwölf Uhr am 2. Oktober sollte ich zu ihm. Wahrscheinlich wollte er dann das mir implantierte spezielle Programm löschen. Damit die Welt nicht untergeht. Aber die Situation hat sich geändert. Der Professor ist vielleicht umgebracht worden, oder man hat ihn irgendwohin verschleppt. Das ist jetzt das Wichtigste.«
    »Moment. Ich schau mal weiter vorn. Er hat jede Menge kodiert.«
    Während die Kleine das Notizbuch durchlas, räumte ich den Rucksack auf und wechselte die Taschenlampenbatterien. Die Regenmäntel und Gummistiefel aus dem Spind waren überall auf dem Fußboden verstreut, aber glücklicherweise

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