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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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– ohne Erfolg. Ich ziehe die schweren Vorhänge vors Fenster und starre stundenlang mit geschlossenen Augen und ohne jedes Gefühl für Entfernung auf die seltsamen Linien und Figuren, die in der Dunkelheit auftauchen und verschwinden.
    Um zehn klopft der Alte an und kommt mit dem Kaffeetablett herein. Als er mich im Bett auf dem Bauch liegen sieht, holt er ein kaltes Tuch und reibt mir damit die Lider. Ich spüre stechenden Schmerz hinter den Ohren, doch die Tränen scheinen ein wenig nachzulassen.
    »Was hast du denn jetzt schon wieder angestellt?«, fragt der Alte. »Die Morgensonne ist stärker, als du glaubst. Besonders wenn Schnee liegt. Du weißt doch ganz genau, dass die Augen des ›Traumlesers‹ kein grelles Licht vertragen, warum bist du bloß rausgegangen?«
    »Ich bin bei den Tieren gewesen«, sage ich. »Sie sind tot. Acht oder neun, nein, mehr.«
    »Und es werden noch mehr werden. Jedes Mal, wenn es schneit.«
    Ich drehe mich auf den Rücken, nehme das Tuch vom Gesicht und frage den Alten: »Warum sterben sie denn so leicht?«
    »Weil sie schwach und kraftlos sind. Von der Kälte und vom Hunger. Das war schon immer so.«
    »Ja, sterben sie denn nicht aus?«
    Der Alte schüttelt den Kopf. »Sie leben jetzt schon Abertausende von Jahren hier, und daran wird sich auch nichts ändern. Im Winter sterben zwar viele, aber im Frühling werden die Jungen geboren. Die Alten machen den Jungen Platz, weiter nichts. Die Zahl der Tiere, die hier leben können, ist schließlich begrenzt. Sie müssen mit dem Futter auskommen, das die Stadt bietet, den Blättern und Gräsern, die hier wachsen.«
    »Warum gehen sie denn nicht irgendwo anders hin? Im Wald gibt es Bäume, soviel sie wollen, und wenn sie nach Süden zögen, wo weniger Schnee fällt, wäre es auch nicht so kalt. Sie sind hier doch nicht angewachsen!«
    »Das kann ich dir auch nicht erklären«, sagt der Alte. »Jedenfalls können die Tiere nicht weg aus der Stadt. Sie gehören hierhin, sie sind gefangen hier. Genau wie ich und du. Ihr Instinkt sagt ihnen, dass sie die Stadt nicht verlassen können, sie wissen das, alle. Vielleicht können sie auch gar keine anderen Blätter und Gräser fressen als die, die hier wachsen. Oder sie sind nicht in der Lage, das Kalksteingeröll zu überwinden, das sich im Süden erstreckt. Wie auch immer, sie können jedenfalls nicht weg von hier.«
    »Und was wird aus den Kadavern?«
    »Die werden verbrannt. Vom Wächter«, antwortet der Alte und wärmt seine großen, rauen Hände an der Kaffeetasse. »Von jetzt an wird das sogar eine Weile seine Hauptbeschäftigung sein. Zuerst schneidet er den verendeten Tieren die Köpfe ab, löst das Hirn und die Augen heraus und kocht die Schädel in einem großen Topf aus, bis sie ganz sauber sind. Den Rest der Kadaver schichtet er auf, begießt sie mit Rapsöl, zündet sie an und äschert sie ein.«
    »Und dann werden die Schädel mit alten Träumen gefüllt und im Magazin der Bibliothek aufgestellt, nicht wahr?«, frage ich den Alten, immer noch mit geschlossenen Augen. »Warum nur? Warum gerade Schädel?«
    Der Alte antwortet nicht. Ich höre bloß das Knarren seiner Schritte auf den Dielen. Es entfernt sich langsam vom Bett und verstummt irgendwo am Fenster. Dann ist eine Zeit lang nichts als Stille.
    »Du wirst es begreifen, wenn du verstanden hast, was alte Träume sind«, sagt der Alte. »Warum die Träume in Schädeln aufbewahrt werden, meine ich. Ich kann dir das nicht erklären. Du bist der Traumleser. Du musst die Antwort selbst finden.«
    Ich wische mir mit dem Tuch die Tränen ab und mache die Augen auf. Verschwommen sehe ich den Alten am Fenster stehen.
    »Im Winter wird dir vieles klar werden«, fährt der Alte fort. »Ob es dir gefällt oder nicht, das ist der Lauf der Dinge. Es wird weiter schneien, und die Tiere werden weiter sterben. Niemand kann das ändern. Am Nachmittag kannst du den grauen Rauch der brennenden Kadaver aufsteigen sehen. Das wird den ganzen Winter so weitergehen, jeden Tag. Weißer Schnee und grauer Rauch.«

21  HARD-BOILED WONDERLAND
DIE KETTCHEN, BEN JOHNSON, DER TEUFEL
    Hinten im Wandschrank breitete sich dieselbe Finsternis aus, die ich beim ersten Mal gesehen hatte, aber sie kam mir, vielleicht weil ich jetzt von der Existenz der Schwärzlinge wusste, bei weitem dichter und kälter vor. Perfekter kann Finsternis nicht sein. Bevor man die Dunkelheit von der Erde verbannte, indem man in den Städten die Straßen beleuchtete, Neonreklame

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