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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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scheint guter Dinge zu sein.
    »Du bist aber früh heute. Welcher Teufel hat dich denn geritten?«
    »Ich wollte mir die Gegend im Schnee ansehen«, sage ich. »Vom Hügel her sah die Landschaft so wunderschön aus.«
    Der Wächter lacht laut auf und legt mir wie immer seine Riesenhand auf die Schulter. Er hat nicht einmal Handschuhe an.
    »Du bist mir einer! Kommt extra runter, um sich die Schneelandschaft anzugucken, wo er von jetzt an Schnee sehen wird, bis er kotzen muss.Vollkommen übergeschnappt, der Junge!« Dann sieht er eine Weile zum Tor hinüber und stößt dabei wie eine Dampflok Schwaden weißen Atems aus. »Aber du kommst gerade richtig! Steig mal auf einen der Hochsitze, da draußen gibt’s gleich allerhand zu sehen. Das erste Mal diesen Winter. Halt die Augen auf, wenn ich gleich ins Horn blase!«
    »Das erste Mal?«
    »Du wirst es schon sehen!«
    Ohne zu wissen, worum es geht, steige ich also auf den Hochsitz neben dem Tor und schaue mir die Welt draußen an. In den Kronen der Apfelbäume hängt so viel Schnee, dass es aussieht, als hätten sich Wolken darauf niedergelassen. Sowohl der nördliche als auch der östliche Bergkamm sind weiß getüncht, nur noch ein paar unbedeckte Felszüge ziehen sich wie Narben über die Hänge.
    Direkt unter dem Hochsitz schlafen die Tiere, wie immer. Mit eingeschlagenen Läufen liegen sie auf dem Boden, das schneeweiße, gerade Horn nach vorne gerichtet. Ihre Rücken sind mit Schnee bedeckt, doch ihr Schlaf ist offenbar so tief und fest, dass sie es nicht zu bemerken scheinen.
    Über mir brechen langsam die Wolken auf, die Sonne kommt heraus und beginnt die Erde zu wärmen. Ich bleibe aber trotz meiner empfindlichen Augen auf dem Hochsitz stehen und betrachte weiter die Landschaft. Es sind nur vereinzelte Sonnenstrahlen, wie kleine Scheinwerfer, und ich will mir schließlich »allerhand« ansehen, wie der Wächter mir geraten hat.
    Endlich öffnet er das Tor und bläst wie immer ins Horn, einmal lang und dreimal kurz. Mit dem allerersten Ton erwachen die Tiere, heben die Köpfe und wenden sie in die Richtung, aus der das Horn ertönt. An der Menge weißen Atems kann man erkennen, dass in ihren Körpern die Energie für einen neuen Tag frei wird. Schlafend haben sie kaum einen Bruchteil der Luft gebraucht.
    Sobald der letzte Ton verklungen ist, stehen sie auf. Erst stellen sie die Vorderläufe auf, wie um sie auszutesten, heben den Körper an und strecken die Hinterläufe aus. Dann stoßen sie ihr Horn ein paar Mal in den Himmel, schütteln sich schließlich, als hätten sie ihn gerade erst bemerkt, den Schnee vom Fell und setzen sich Richtung Tor in Bewegung.
    Als die Tiere durch das Tor verschwinden, begreife ich, was der Wächter mir zeigen will. Einige Tiere liegen immer noch da, als ob sie schliefen. Jetzt erst merke ich, dass sie erfroren und verendet sind. Aber sie sehen nicht tot aus, eher als dächten sie angestrengt über bedeutende Probleme nach. Aber eine Lösung gibt es nicht mehr für sie. Aus ihren Mäulern und Nüstern dringt kein Hauch weißen Atems mehr. Sie haben jede Bewegung eingestellt, ihr Bewusstsein ist in tiefe Dunkelheit versunken.
    Die anderen Tiere passieren das Tor und lassen die Kadaver zurück, die daliegen wie kleine Geschwulste der Erde, in ein Totenhemd aus weißem Schnee gehüllt. Nur die Hörner ragen seltsam lebendig empor. Im Vorüberziehen beugen die meisten überlebenden Tiere ihren Kopf einmal tief hinunter oder scharren kurz mit dem Huf. Sie trauern um ihre Toten.
    Ich warte, bis die Sonne höher steht, den Schatten der Mauer fast verdrängt hat und mit ihren Strahlen leise den Schnee auf dem Boden zu schmelzen beginnt. Die ganze Zeit beobachte ich die stillen Kadaver der Tiere. Ich warte darauf, dass die Morgensonne sie ebenso auftaut wie den Schnee, dass sie sich plötzlich von den Toten erheben und ihren allmorgendlichen Trott beginnen, als sei nichts gewesen.
    Aber sie stehen nicht auf. Nur ihr vom Tauwasser nasses, goldenes Fell fängt die Sonnenstrahlen ein und leuchtet auf ewig. Da beginnen meine Augen zu schmerzen.
    Ich steige vom Hochsitz herab, überquere den Fluss, gehe den Westhügel hinauf und kehre in mein Zimmer zurück. Ich weiß jetzt, dass die Morgensonne meinen Augen viel größeren Schaden zufügen kann, als ich für möglich gehalten hätte. Ich schließe die Augen; Bäche von Tränen quellen hervor – ohne Unterlass. Ich stolpere und falle auf die Knie. Ich wasche mir die Augen mit kaltem Wasser aus

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