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Harka der Sohn des Haeuptlings

Harka der Sohn des Haeuptlings

Titel: Harka der Sohn des Haeuptlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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erbarmungslos leere und einsame Grasland. Das Rauschen des Flusses wurde stärker, die Schneeschmelze in den Bergen kam in vollen Gang, und die Wasser stiegen.
    Harka wußte das alles und dachte doch nicht daran. Er wartete nur auf Tschetan und darauf, ob der Freund neue Nachrichten bringen würde.
    Als der magere junge Bursche in der ersten sternenerleuchteten Nachtstunde zurückkam, machte er bei Harka, wie zwischen beiden verabredet, kurz halt. Harka hatte wohl bemerkt, daß die Bewegungen Tschetans etwas Hastiges an sich hatten, das mehr bedeutete als die bloße Eile.
    »Du bist noch ein Knabe«, flüsterte der Bursche Harka zu, »aber du sollst es wissen: Die Pani singen nicht mehr das Büffellied. Sie haben Fleisch.«
    Harka wußte selbst nicht genau, was er bei diesen Worten empfand; es fühlte sich fast an wie Schrecken. »Sie haben gejagt?«
    »Sie haben nicht gejagt, aber sie haben Fleisch.«
    Jetzt erschrak Harka wirklich. »Wie?«
    »Sie haben Feuer gemacht und braten. Alte Antilope ist mir vorangelaufen und wird schon im Zelt deines Vaters sein, um alles zu melden.« Alte Antilope war der schnellste Läufer des Dorfes. Auch sein Vater und sein Großvater waren die schnellsten ihrer Generation gewesen, und Alte Antilope hatte unter seinen drei Söhnen bereits einen mit Namen »Junge Antilope«, der mit seinen fünf Jahren schneller lief als die Siebenjährigen. Es war natürlich, daß Alte Antilope das Dorf noch eher erreicht haben mußte als Tschetan und daß Mattotaupa, der Häuptling, auf diese Weise auch noch vor seinem Sohn Harka unterrichtet war.
    »Tschetan – wer hat den Pani Fleisch gegeben?«
    »Ein Geheimnis.«
    »Das Große Geheimnis?« »Ich weiß es nicht.«
    »Büffelfleisch?«
    »Büffelfleisch.«
    Zum erstenmal in diesen Hungertagen fühlte Harka eine wirkliche Schwäche. Büffelfleisch! Die Mörder seiner Mutter fraßen Büffelfleisch, duftende gebratene Lende, Hirn, Leber! Sie löffelten die belebende starke Fleischbrühe – die Mörder …!
    »Tschetan, was glaubst du, werden unsere Männer kämpfen? Wie viele Krieger haben die Pani?«
    »Es sind ihrer fast hundert.«
    »Hundert.« – Hundert! Das war eine dreifache Übermacht.
    Tschetan wollte sich nicht länger aufhalten. Er mußte ins Dorf, um zu berichten. Harka lief mit ihm ins väterliche Tipi.
    Mattotaupa hatte in der Zeltmitte ein Feuer anfachen lassen, das jetzt mit huschenden Lichtern ihn selbst und Sonnenregen belichtete. Der rötliche Schimmer ließ die Schatten noch schwärzer erscheinen. Harka schlich sich in den Hintergrund zu Untschida, Scheschoka und den Geschwistern, zu denen jetzt auch Schonka zählte. Er hörte Tschetans Bericht, der ihn wiederum stark erregte, und er sah die Mienen der beiden Häuptlinge, die sich am Feuer gegenübersaßen und stumm anblickten. Harka spürte, daß die Männer verzweifelt und erbittert genug waren, um den Kampf um die Nahrung, wenn nötig auch gegen die Übermacht, aufzunehmen.
    Aber woher die Pani das Fleisch hatten, wußten sie offenbar auch nicht. Sie hatten von den Spähern nur erfahren, daß eine Kolonne von Pani gekommen war, und zwar aus Süden; diese hatten das Fleisch in büffelhautumschlossenen Paketen mitgebracht.
    »Die Männer der Bärenbande werden beraten«, sagte Mattotaupa, und damit war nur entschieden, daß an diesem Abend nichts weiter entschieden werden sollte. Denn eine allgemeine Beratung konnte erst am kommenden Morgen anberaumt werden.
    Harka begab sich wie die Frauen und die anderen Kinder auf sein Lager, aber er fand keine Ruhe. Jetzt hätte er ein Mazzawaken haben müssen, dann hätte er hundert pfeilbewehrte Pani des Nachts in Schrecken versetzen können, er allein! Ein Mazzawaken! Immer tiefer bohrte sich der Wunsch in sein Hirn, und er konnte diesen Gedanken nicht mehr loswerden.
    Es trieb ihn aus dem Zelt hinaus. Sein Lager befand sich ja nicht weit vom Ausgang, und niemand außer Untschida bemerkte, daß Harka sich hinausschlich.
    Der Knabe ging zunächst nicht weit. Er machte nur die paar Schritte bis zum Zauberzelt, und davor blieb er stehen. An der langen Stange vor dem Tipi pendelte zwischen Zaubermasken und getrockneten Tierhäuten das Mazzawaken, das Harkas Mutter getötet und das Harka erbeutet und geopfert hatte. Er durfte es sich nicht nehmen. Er durfte nicht einmal einen solchen Wunsch hegen. Harka blieb stehen und starrte das Mazzawaken lange an.
    Dann lief er aus dem Zeltlager hinaus, um in der Dunkelheit und Einsamkeit mit sich selbst

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