Harlekins Mond
einem Staubkorn, das an einem feurigen Wasserball vorbeigeweht wurde. Der Planet zeigte sich ihnen in beängstigenden Einzelheiten; sie sahen Wirbel innerhalb von Stürmen innerhalb von Streifen separater Gase. Ein kleiner Fehler in der Flugbahn würde sie dort hineinstürzen, und die Diamond Mine würde es nie mehr schaffen, aus der Gravitationssenke des Gasriesen herauszuklettern, sondern bald darauf auseinandergerissen werden.
Gabriel hielt den Atem an, nur kurz von dem Anflug von Angst erfasst.
Und schließlich, jenseits von Dädalus, bliesen sie den Feuerball in ihrem Triebwerk mit einem mächtigen Stoß in den Raum hinaus. Kurzzeitig wurden sie von sechs Komma zwei g in ihre Liegen gedrückt, und dann gingen sie in den freien Fall über, wurden nahezu gewichtslos, während das Schiff einer leichten Belastung durch Dädalus’ Gezeitenkräfte ausgesetzt war. Sie flogen nun in Dädalus’ Schatten. Der zurückbleibende Gasriese stand hinter ihnen als schwarze Scheibe, umrandet von Apollos Korona.
Ihre Flugbahn begradigte sich nach und nach, und Gabriel fühlte sich allmählich wieder sicher. Erika startete das Navigationsprogramm und berechnete die kleinen Kurskorrekturen, die nötig sein würden, um – basierend auf ihrer derzeitigen Flugbahn – Refuge abzufangen. Langsam stahl der Gasriese etwas von der Geschwindigkeit zurück, die er ihnen zuvor verliehen hatte.
Im Solsystem hätte man es als KBO bezeichnet, als Kuiper Belt Object oder Transneptunisches Objekt. Es war ein flachgedrücktes und zerschrundenes Sphäroid, ein schwarzer Klumpen, wenn man von einer glänzenden Blase absah, die sich auf einer Seite formte. Auf jenem Teil der Oberfläche breiteten sich mikroskopisch kleine Nanoroboter aus. Bevor sie irgendetwas Ehrgeizigeres unternahmen, sprühten Gabriel und Erika einen Sperrstreifen rund um die Taille des Objekts.
Die Barriere würde den Nanorobotern den Zugang zu einer Seite von Refuge verwehren: der künftigen »Unter« Seite. Von diesem Zeitpunkt an würde die Diamond Mine nur noch an der »Unter« seite tätig werden.
Sie nahmen das Objekt ohne Schwierigkeit an den Haken; das war eine Methode, die Gabriel und Ali wieder und wieder praktiziert hatten, als sie gefrorene Gase aus den Kernen toter Kometen sowie Mineralien und zusätzliche Masse von Chondrit-Asteroiden herangeholt hatten, um Selene damit zu überziehen. Auch Erika hatte dabei mitgeholfen und war zwei aufeinanderfolgende Schichten hindurch bei ihm geblieben, bevor sie sich in einen tausendjährigen Schlaf begeben hatte.
Das Objekt, aus dem die Zuflucht entstehen würde, war noch um vieles größer als die gewaltige Diamond Mine. Gabriel kam sich vor wie ein Bakterium, das eine Ameise lenkte, die wiederum eine Walnuss in ihren Beißzangen hielt. Das felsige Antlitz des Asteroiden – die Seite, die zur Unterseite der Zuflucht werden würde – versperrte ihnen die Sicht auf den Weltraum vor ihnen – eine Wand, gegen die sie stießen und an der sie sich festhielten, mittels derer sie lenkten und gegen die sie drückten. Ständige geringfügige Kurskorrekturen verliehen dem Flug der Diamond Mine das unangenehme Auf und Ab einer Karussellfahrt.
Auf der abgewandten »Ober« seite des Asteroiden gingen die Nanoroboter unermüdlich ihrer Arbeit nach. Gabriel schickte gelegentlich eine Sonde aus, um ihre Aktivitäten im Auge zu behalten. Erika zog es vor, alle diesbezüglichen Vorgänge zu ignorieren, so als hätte der Felsen einen unansehnlichen Ausschlag entwickelt. Sie hatte kein Vertrauen zu Nanotechnologie.
Auf der Oberseite von Refuge bildete sich eine gläserne Pupille, die jedes Mal, wenn Gabriel nachsah, ein wenig größer geworden war. Felsbuckel und Erhebungen, Spalten und Krater verschwanden unter ihrer Außenkante. Das alles ging mit quälender Langsamkeit vonstatten, doch es geschah. Falls der Vorgang außer Kontrolle geriet, würden sie den Felsen abstoßen und andernorts von vorn anfangen; doch das konnte sie ein Vierteljahrhundert kosten.
Die größten Probleme entstanden dadurch, dass sie so lange zusammen eingepfercht waren, ohne jede weitere Gesellschaft. Wenn man auf die gewohnte Fülle des Datenstroms verzichten musste, waren zwei Jahre eine lange Zeit. Gabriels und Erikas Verhältnis zueinander wandelte sich von stürmisch und leidenschaftlich zu sanft und tiefempfunden, von leicht gereizt zu charmant und wieder zurück. Sie hatten dies zuvor schon durchgemacht, und sie ließen aus Spaß die Zyklen
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