Harlekins Mond
Rachel hatte keineswegs die Absicht, irgendjemandem aus dem Weg zu gehen, doch das sprach sie nicht laut aus. »Kommt Gabriel auch hierher?«
Treesa schüttelte den Kopf. »Gabriel ist zu sehr mit der bestehenden Machtstruktur gleichgeschaltet. Wenn er über bestimmte Dinge Bescheid wüsste, wäre er vielleicht der Auffassung, er müsste sie dem Hohen Rat mitteilen.«
»Aber er ist mein Freund«, wandte Ali ein. »Ich vertraue ihm.«
»Ich auch«, sagte Rachel. »Er weiß, dass ich mehr unterrichte, als er mir vorgibt, und er hat mich nicht nach Einzelheiten gefragt.«
»Das ist richtig«, bestätigte Treesa. »Astronaut hat mir erzählt, dass er dir manchmal auf eigene Faust hilft. Du solltest jetzt wohl besser zu ihm gehen.«
Als Rachel aufstand und gehen wollte, hielt Ali sie mit ihrem Blick zurück. »Rachel, du brauchst irgendeine Beschäftigung, während du auf Beths Genesung wartest. Wir wecken im Laufe der nächsten zwei Wochen 100 Erdgeborene auf. Ich werde Gabriel bitten, dass er dich zu meiner Unterstützung abstellt.«
»Okay.« Trotz allem fühlte Rachel, wie sich ihre Stimmung hob. Der Gedanke, dass sie etwas anderes zu tun bekommen würde als endlose Experimente im Garten, war reizvoll.
Als Rachel sich auf den Weg machte, gingen ihr einige Dinge durch den Kopf, die sie Ali und Treesa hatte fragen wollen. Dachte Gabriel ebenso wie die beiden Frauen? Er hatte noch nie mit ihr über seine persönlichen Ansichten geredet – nicht wirklich. Es war ihm wichtig, Selene zu verlassen und zum Ymir zu fliegen. Welchen Plan hatte der Rat im Hinblick auf die Zukunft der Mondkinder? Worum handelte es sich bei dieser Zuflucht, die Cläre im Verlauf der Sitzung erwähnt hatte? Und wie viele Dinge gab es, mit denen Treesa und Ali und selbst Astronaut ihr gegenüber hinterm Berg hielten?
Rachels Weg führte sie einer Reihe hoher Gewächskästen entlang, aus denen Kaskaden von Brombeerranken wuchsen. Winzige fliegende Robotmaschinen umflogen summend die Gewächskästen, reinigten die Luft von überschüssigem Wasser und hielten die Feuchtigkeit auf dem richtigen Niveau für die Himbeeren und Heidelbeeren, die Rachel so gern mochte. Die reifen Beeren verströmten einen süßen Geruch. Ihr wurde klar, dass sie den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Als sie nach einigen reifen Brombeeren griff, hörte sie jemanden weinen. Es klang wie ein Kind, doch es gab keine Kinder an Bord der John Glenn.
Rachel schob sich vorsichtig um den Gewächskasten herum und versuchte, dabei so leise wie möglich zu sein. Sie blieb mit ihrer Kleidung an Beerenranken hängen und zog sie sachte von sich weg, hielt inne, machte einen Schritt und zog, machte erneut einen Schritt und stach sich. Rote Blutperlen bildeten sich dort, wo sich Dornen in ihre nackte Haut gebohrt hatten. Als sie um die Ecke bog, sah sie auf einer Bank vor einem der Kunstobjekte des Rates – einer modellierten gläsernen Sphäre, die den terraformierten Planeten Ymir darstellte – eine Frau sitzen. Eine Ranke, die Rachel aus dem Weg geschoben hatte, schnellte zurück, und ein Dorn stach sie ins Schienbein. Unwillkürlich schrie sie auf.
Liren hob den Blick; ihre Augen waren rot umrandet und das Gesicht verquollen. Sie erkannte Rachel. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich blitzartig von verängstigt zu wütend, und während sie unter Tränen nach Luft rang, gab sie ein seltsam fauchendes Geräusch von. Weil sie sich beim Aufstehen zusätzlich mit den Armen abdrückte, schnellte sie in den Stand hoch.
Für einen Sekundenbruchteil dachte Rachel daran, wegzulaufen. Sie blieb stehen und stammelte: »Kann … kann ich Ihnen helfen?«
Liren starrte sie wütend an, während sie sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen zu wischen versuchte und sie sich dabei durchs Gesicht schmierte. »Niemand kann das. Ganz besonders nicht du.«
Rachel zitterte. »Weshalb nicht? Wurden wir nicht dazu geboren, euch zu helfen?«
»Das ist ein Problem, nicht wahr? Aber du dürftest überhaupt nicht – hier sein. Wir müssen hier weg. Wir müssen von hier fortgehen. Und wenn wir gehen – dann lassen wir euch zurück. Verstehst du jetzt also, wieso du hier nicht bleiben kannst? Geh wieder hinunter auf Selene.« Liren atmete in kurzen, keuchenden Stößen; sie stand mit geballten Fäusten da und rief: »Geh jetzt! Geh weg von hier! Und komm nicht wieder!«
Schockiert blieb Rachel einen Augenblick lang stehen, dann murmelte sie: »Entschuldigung«, und wich zurück. Sobald
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