Harlekins Mond
sagen? Sie überlegte hin und her und betrachtete das Problem von allen Seiten, ohne dass ihr die passenden Worte einfielen. Man fing niemals mit etwas Schwerem an. Das Datum. Man sagte ihnen das Datum. »Mom?«
Keine Reaktion.
»Kristin. Wir schreiben das Jahr 60.295 Schiffszeit. Du bist 14 Jahre lang kalt gewesen.« Halt – das stimmte nicht. »34 Jahre. Ich war selbst 20 Jahre lang kalt.«
Kristin riss die Augen auf. Rachel hatte vergessen gehabt, von welch leuchtendem Grün die Augen ihrer Mom waren. Rachel suchte nach einem Zeichen des Wiedererkennens. Da war keines. Ihr wurde klar, dass ihre Mom niemals erwartet haben konnte, sie hier zu sehen. »Wach auf, Schläferin. Es gibt Arbeit zu tun, und wir heißen dich zu deiner Rückkehr willkommen.« Rachel hatte gehört, wie Ali diese und ähnliche Formulierungen benutzt hatte. »Wach auf. Es ist Zeit, dich zu uns zu gesellen.«
Der Blick ihrer Mom heftete sich auf Rachel. »Nur 34 Jahre? Sind wir so schnell auf Ymir angekommen?« Ihre Stirn runzelte sich. »Das kann nicht sein. Mir wurde doch gesagt, ich müsste nicht mehr aufwachen, bis wir auf Ymir wären. Ist irgendetwas passiert?«
»Mom. Ich bin es. Rachel.«
Kristins Augen schlössen sich wieder. »Das muss ein Traum sein.«
»Ich bin es. Ich bin es wirklich! Ich habe nach dir gesucht. Ich habe überall gesucht.«
Kristin flüsterte: »Du kannst unmöglich hier sein. Ich bin doch auf dem Schiff, oder?« Kristin riss die Augen weit auf, sie drückte sich auf die Ellbogen hoch und schaute sich um. »Ich bin doch auf dem Schiff, oder? Nicht auf Selene?«
»Mom, fühl doch die Schwerkraft. Wir sind beide an Bord der John Glenn. Ich helfe Ali. Sie lassen mich hier assistieren.« Rachel griff nach Kristins Hand und nahm sie in ihre eigene. Sie spürte keinen antwortenden Fingerdruck; Kristin ließ zu, dass Rachel ihre Hand hielt, doch sie schloss erneut die Augen und ließ sich wieder zurück aufs Bett sinken.
Rachel konnte nicht mehr an sich halten; sie musste es einfach wissen. Sie flüsterte: »Mom – wieso hast du mich verlassen?«
Schweigen war die einzige Antwort. Rachel durchbrach es; sie wollte unbedingt eine Antwort. »Dad und ich, wir haben auf dich gewartet. Es hat ein Jahr gedauert, bis man uns mitgeteilt hat, dass du nicht zurückkämst. Du hast ihm das Herz gebrochen, so sehr hat er dich vermisst. Er hat oft einfach nur dagesessen und durchs Fenster nach dir Ausschau gehalten, und er hat alles behalten, was du ihm gegeben hast.« Rachels Stimme zitterte, und ihr wurde bewusst, dass der Knoten in ihrem Magen nun größtenteils von Ärger herrührte. Sie machte einen tiefen Atemzug, um sich zu wieder zu fangen, und dämpfte ihre Stimme. »Eine andere Erdgeborene hat ihm das Gleiche angetan wie du. Nur, dass Karas Weggang nicht überraschend kam – sie hat ihm vorher gesagt, dass sie ihn verlässt. Er hat inzwischen drei weitere Kinder. Justin und Jacob – Zwillinge – und Sarah.«
Rachel fühlte, wie sich Kristins Hand der ihren entzog. Sie redete weiter, getrieben von dem Bedürfnis, ihre Geschichte zu erzählen. »Dad ist inzwischen älter als du. Beim letzten Mal, als ich hier oben war, hat er nach dir gefragt. Es war eine seiner ersten Fragen. Er wollte wissen, ob ich dich gesehen hätte.«
Kristin versuchte, sich aufzusetzen. Rachel half ihr, indem sie ihr Kissen unter den Rücken stopfte, dann trat sie zurück bis zur Wand, sodass sie ein Stück von ihrer Mom entfernt stand.
»Ich – ich freue mich, dich zu sehen«, sagte Kristin langsam. »Ich habe keine Ahnung, wie du hierher kommst – wie es sein kann, dass du uns hilfst. Aber … ich bin sicher, es ist in Ordnung. Offenbar machst du deine Sache gut.« Sie drehte ihren Kopf hin und her, als wollte sie dessen Verbindung zu ihrem Hals überprüfen, und trank einen langen Zug von dem Wasser. »Wieso hat man mich aufgeweckt?«
Rachel warf einen Blick auf das Datenfenster. »Dein Auftrag lautet Überwachung des Kommunikationsverkehrs vom Schiff aus.« Sie spürte einen Kloß im Hals. »Du wirst dafür nicht auf Selene hinuntergehen müssen. Ich … ich schätze, das willst du auch gar nicht.«
»Selene ist ein so unwirtlicher Ort, und wir haben uns dort abgerackert wie die Tiere.« Kristin schaute an Rachel vorbei, als wäre sie gar nicht vorhanden. »Frank hat das alles einfach so hingenommen! Er ist auf Selene geboren – er hat weder die John Glenn noch die Erde je gesehen. Ihm war überhaupt nicht klar, wie kahl und öde
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