Harlekins Mond
genau?«, fragte Gabriel.
»Ich bin mit Paul und zwei anderen zurückgeflogen. Ich bin gerade mal etwas mehr als einen Tag hier oben. Jedenfalls ist die Reaktion der Mondgeborenen sogar noch bedeutsamer als Jacobs Tod selbst. Andrew hat Star angegriffen und ihr ihre Handwaffe gestohlen, dann hat er sie benutzt, um Ben zu betäuben, der gerade dabei war, die letzte Kiste mit Waffen abzuladen, die wir hinuntergeschickt haben.« Ali reichte Gabriel einen Bocksbeutel mit Flüssigkeit. »Andrew hat einen Angriff aus dem Hinterhalt auf drei Leute am Landefeld angeführt. Sie müssen Star völlig überrascht haben. Er benutzt sie als Geisel.«
Gabriel trank. Der Gemüsesud half ihm, rasch einen klaren Kopf zu bekommen. Star eine Geisel? »Ist sie okay?«
»Bis jetzt ja.«
»Wieso haben wir überhaupt Waffen auf Selene hinuntergebracht?« Er gab Ali den Bocksbeutel zurück, stützte sich auf sie und machte versuchsweise einen Schritt. Ein leichter Schmerz. Nicht schlimm. Gemeinsam bewegten sie sich weiter voran zur Tür.
»Wegen schlechter Produktionszahlen, und weil sie im Hohen Rat im Begriff sind, das Projekt Antimateriegenerator anlaufen zu lassen und sie es schützen wollen.«
»Das habe ich befürchtet.« Gabriels Büroraum war ziemlich weit von der Medizinischen Abteilung entfernt. »Ali – geh weiter, ich halte schon mit dir Schritt. Ich brauche mehr Informationen – ich ziehe Astronaut hinzu.«
Ali nickte, als handelte es sich um das Normalste auf der Welt. »Sicher. Astronaut hat mich benachrichtigt, als er per Notfallcode deinen Weckvorgang initiiert hat.«
Seit er das letzte Mal ganze Tage mit Ali verbracht hatte, waren mehrere Jahre vergangen, und seinerzeit hatte sie alles gehasst, was mit Astronaut zusammenhing. Vielleicht war es wirklich zu viele Jahre her … war das tatsächlich noch vor dem Bau der Ratshöhen gewesen? Seine Überraschung nahm sogar noch zu, als er sich gleich darauf in einer Sprachkonferenz mit Ali und Astronaut wiederfand. Ali redete so unbefangen mit Astronaut, als täte sie das jeden Tag.
Sie erreichten Gabriels Büro noch rechtzeitig, um mit anzusehen, wie Andrew, in Echtzeit minus sechs Sekunden, das Lagerhaus besetzte, in dem sich das Grundstoffnano befand. Er hatte mindestens zehn Leute bei sich, allesamt bewaffnet. Aus dem momentanen Blickwinkel waren sie als Punkte zu erkennen, die über das rechteckige flache Dach ausschwärmten. Gabriel zoomte an einige der Gesichter heran. Andrews Augen wirkten kühl; er hatte den Mund zu einer schmalen Linie zusammengezogen. Star kauerte gefesselt auf dem Dach. Ihr Blick war berechnend: Sie wartete auf eine günstige Gelegenheit.
Gabriel schloss die Augen. Das war eine Katastrophe.
»Astronaut? Wie geht es Rachel?«, fragte er. »Wo ist sie?«
»Aus welchem Grund fragst du sie nicht selbst?«
Natürlich. Warum hatte er das nicht einfach getan? Er ließ sich in einen Sessel sinken und verfluchte seine Schwäche. Sein Denken war immer noch konfus. Notfall-Weckstimulanzien hatten nicht dieselbe heilende Wirkung wie der normale Aufwärmvorgang. »Rachel?«
Die Erwiderung, die er hörte, klang heiser und müde. »Gabriel? Bist du das? Du bist warm? Kannst du uns bitte helfen?«
»Bist du okay?«
»Natürlich nicht.«
Gabriel runzelte die Stirn. »Wo bist du?«
Rachels Stimme klang brüchig vor Erschöpfung. »Ich bin mit vielleicht 50 von uns zu Fuß unterwegs, weg von Camp Clarke. Nach Osten, in Richtung Aldrin. Niemand hat uns gesagt, was wir tun sollen, und das schien mir das Beste zu sein. Die Räte hier sind schießwütig. Sie haben meinen Bruder umgebracht. Jemand muss das, was hier passiert, aufhalten. Ich schaffe das nicht. Ich weiß nicht, wie. Kannst du herunterkommen?«
»Nicht sofort. Ich bin gerade erst warm geworden; ich kann noch nicht fliegen.« Er begann nach ihr zu suchen, wo er sie vermutete, und versuchte, ein entsprechendes Bild vor sich auf die Wand zu legen. »Liren ist auf dem Weg nach unten.«
»Liren! Das hat uns gerade noch gefehlt. Wann wird sie hier sein?«
»Bald. Rachel – halt dich von ihr fern.«
Ali schaltete sich in das Gespräch ein. »Dylan ist bei Andrew.«
Gabriel stöhnte. Das hatte er nicht kommen sehen. Er sah Ali an und schüttelte den Kopf. »Rachel – bleib, wo du bist. Du kannst nichts Vernünftiges ausrichten, wenn du in Andrews Nähe bist, und außerdem wird es gefährlich werden, sich dort aufzuhalten.« Aus irgendeinem Grunde wollte es ihm anscheinend nicht gelingen,
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